Einen Preis für architektonische Besonderheit hat die Teerhofbrücke in Bremen eher nicht verdient. Der Steg, auf dem Fußgänger über die Weser eilen, ist aus grauem Asphalt, das blaue Geländer schmucklos, einfach nur praktisch.
Stefan Boltz, Stadtplaner und für den Bremer Senat tätig, kommt dennoch ins Schwärmen, wenn er vor der Brücke steht und den vielen Fußgängern zusieht, die schnurstracks über den Fluss gehen, um von der Bremer Altstadt ins Teerhofviertel und weiter in die Neustadt zu eilen: "Sie alle sparen Zeit", sagt er und erzählt dann von früher, als es die Brücke noch nicht gab.
Menschen und Zeit beherrschen
Da hatten die Bremer längere Wege zu bewältigen, mussten über eine entfernte Brücke. Zu weit für einen Fußmarsch, also nahmen sie das Auto, was die Innenstadt verstopfte und zudem mehr CO2-Belastung mit sich brachte. Wenn beides zu vermeiden ist, freut sich jeder Stadtpolitiker. In Bremen jedoch geht es um mehr, um Minuten und Stunden.
Ihren Ursprung hat die Idee in den Neunzigerjahren. Damals begannen einige Wissenschafter, sich mit dem Phänomen Zeit und Stadt zu befassen. Einer von ihnen ist Günter Warsewa, Direktor am Institut Arbeit und Wirtschaft an der Universität Bremen. "Wir gingen von der Grundüberlegung aus, dass seit dem Mittelalter diejenigen die Menschen beherrschen, die die Zeit beherrschen", sagt er zum STANDARD. Denn: Wer die Arbeitszeit festlegt, der bestimmt den Rhythmus der Arbeitnehmer.
Daraus wurde ein Forschungsprojekt, und die Mitarbeiter fragten (sich): Kann man in einer Stadt wie Bremen mit seinen 550.000 Einwohnern auch Zeitstrukturen infrage stellen? Man kann nicht nur, man muss sogar, findet Stadtplaner Boltz.
Drei mal acht Stunden
Eigentlich sei es ja ganz einfach, rechnet er vor: "Der Tag hat für jeden 24 Stunden. Wenn man davon ausgeht, dass man je rund acht Stunden schläft und arbeitet, dann bleiben nur acht Stunden Freizeit." Und diese dann, etwa bei Behördengängen, noch zur "falschen Tageszeit".
Denn wer in eines der Bremer Bürgerämter wollte, musste sich früher nicht selten extra freinehmen, weil die Öffnungszeiten genau in die Arbeitszeit fielen. Also plante die Stadt um. Mehrere kleinere Bürgerämter mit den wochentäglichen Öffnungszeiten bis 16 Uhr wurden geschlossen.
Öffnungszeiten am frühen Abend
An ihre Stelle kam, mitten in der Innenstadt, ein zentrales Bürgerservicecenter. Dieses hat Montag, Dienstag und Donnerstag bis 18.30 Uhr geöffnet, samstags von 9 bis 13 Uhr.
Vor allem die Öffnungszeiten am frühen Abend und am Samstag werden gut genutzt. Spontane Anliegen möge man in dieser Zeit lieber nicht vorbringen, heißt es im Bürgeramt.
Leicht war es nicht, diesen neuen Service einzuführen, erinnert sich Warsewa, "geht nicht, war bisher auch nicht so", ein oft gehörtes Argument. Bis die ersten Mitarbeiter sich meldeten und erklärten, sie würden eigentlich gerne am Samstag und am späten Nachmittag arbeiten.
Viele Radfahrer
Mitarbeiter wie Bürger kommen im Idealfall übrigens mit dem Fahrrad in die Bremer Innenstadt. 39 Prozent der Einwohner nutzen jetzt schon fast täglich den Drahtesel. In vergleichbaren Städten mit mehr als 500.000 Einwohnern sind es nur 22 Prozent. Bis 2025 sollen acht Radpremiumrouten entstehen: extrabreite Radwege, auf denen auch Nebeneinanderfahren und Überholen möglich ist. "Wir wollen noch mehr Menschen aufs Fahrrad holen, weil es für eine Stadt in der Größe von Bremen einfach das schnellste Verkehrsmittel ist, zumal wir keine U-Bahn haben", sagt Boltz.
In den vergangenen Jahren wanderten auch einige Institutionen näher ins Zentrum: Radio Bremen, die Volkshochschule, eine Bibliothek. Von einem "aktiven Eingreifen in die Zeitstruktur" spricht der Stadtplaner. Wenn viele hochfrequentierte Einrichtungen nahe beieinanderliegen, dann spare das dem Bürger einfach Weg und Zeit.
Schwarze Kringel
In seinem Büro hat Boltz Pläne anderer Städte liegen: Hannover, Hamburg, Wien. Neuralgische Punkte der Städte (Bahnhöfe, Messen, Universität) sind schwarz eingekringelt und mit einer Linie mit dem Zentrum verbunden. Es fällt auf, dass es in Bremen im Zentrum recht schwarz ist, während anderswo die Linien und somit die Entfernungen viel länger sind.
Aber andere Städte sind ja auch größer, da ist es nicht so einfach. Ja und nein, sagt Boltz. Hannover etwa habe eine mit Bremen vergleichbare Einwohnerzahl. Und rechne man den Ballungsraum dazu, komme Bremen auch auf zwei Millionen Bewohner.
Natürlich ist Bremen nicht erst in den vergangenen zwanzig Jahren erbaut worden. Als der Zeitfaktor ins Spiel kam, gab es ja praktisch eine fertige Stadt. Das Argument, dass Platz für Neugestaltung im Zentrum einer Stadt vielerorts beschränkt sei, lässt Boltz nicht gelten: "Natürlich kann man dorthin keine neue Messe oder ein Stadion bauen. Aber für gewisse Einrichtungen findet man mit gutem Willen schon Platz."
Besser gestalten
Zur "Zeitarbeit" gehört für ihn auch, Bestehendes besser zu gestalten. Es nütze nichts, Verbindungswege für kürzere Strecken zu schaffen, wenn diese so dunkel oder unattraktiv sind, dass sie nicht angenommen werden.
Doch es stellt sich die Frage, wie es jenen 35 bis 40 Prozent der Bewohner ergeht, die gar nie ins Zentrum kommen. Denen also all die schöne Zeitersparnis gar nichts nützt. Die auch nicht Zeit sparen müssen, weil sie mit Freizeitaktivitäten aller Art eingedeckt sind, sondern für die Fahrten vor allem Geld bedeutet, das sie nicht haben.
Zeitgerechte Stadt
Für sie hat man im Rahmen des Projekts "Zeitgerechte Stadt" auch etwas geschaffen: zwei Quartiersbildungszentren in sozialen Brennpunkten. Dort gibt es nun viele Angebote, die früher verstreut waren, an einem Ort: Schule, Kindergarten, Gesundheits- und Sozialberatung, Mädchentreff, Freizeitzentrum.
Der Grundgedanke ist der Gleiche: Sind verschiedene Einrichtungen nahe beisammen, dann werden sie - hoffentlich - besser angenommen. Günter Warsewa hat aus dem Zeitprojekt eine Erkenntnis mitgenommen: "Wenn man beginnt, über Zeitfragen nachzudenken, dann kommt man rasch auf scheinbar banale Lösungen. Und man merkt, dass alle Leute die gleichen Probleme haben." (Birgit Baumann, DER STANDARD, 6.12.2014)