Das Fahrrad spielte in Einsteins Theorie keine geringe Rolle.

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Ein Astronaut erreicht - Wurmlöcher und Galaxien durchquerend - gerade noch rechtzeitig das Sterbebett seiner Tochter. Sie ist mittlerweile eine Greisin, er hingegen durch extreme Geschwindigkeiten und Gravitationskräfte viel weniger gealtert - die Relativität der Zeit ist nicht erst seit dem jüngsten Science-Fiction-Epos Interstellar immer wieder der Stoff, aus dem Hollywood gemacht ist.

In der physikalischen Konzeption der Zeit hat die von Albert Einstein Anfang des 20. Jahrhunderts formulierte Relativitätstheorie ein radikales Umdenken bewirkt, das über die Physik hinaus von Bedeutung ist. Die Zeit ist relativ - was wie ein banaler Allgemeinplatz klingt, ist eine zentrale Aussage der Theorie. Doch was ist ihr physikalischer Gehalt?

Physikalisch gesehen ist die Zeit das, was von Uhren gemessen wird. In der Vorstellung einer absoluten Zeit, die vor Einstein das physikalische Denken bestimmt hat, spielt es keine Rolle, wo die Zeit gemessen wird: Eine Sekunde dauert immer gleich lange - auf der Erde, auf dem Sirius, in Ruhe oder in Bewegung.

Die Welt und das Licht

Diese Auffassung scheint zwar vernünftig, die Relativitätstheorie zeigt aber, dass sie falsch ist. "It came to me that time was suspect", wird Einstein von N. David Mermin im Buch It's About Time, einem der wichtigsten Werke über die Relativitätstheorie, zitiert.

Eine der Ausgangsfragen der Speziellen Relativitätstheorie - die sich Einstein auf dem Fahrrad gestellt haben soll - ist: Wie würde die Welt aussehen, wenn man sich mit der Geschwindigkeit eines Lichtstrahls bewegt?

Einstein stellte fest, dass bewegten Beobachtern Längen verkürzt und Zeiten gedehnt erscheinen. Diese sogenannte Zeitdilatation lässt sich auf die einfache Formel bringen: Bewegte Uhren gehen langsamer. Bei Alltagsgeschwindigkeiten lässt sich dieser Effekt zwar kaum bemerken, aber wenn ein Mensch mit rund 540.000.000 km/h unterwegs wäre - rund die Hälfte der Lichtgeschwindigkeit -, wäre er nach einem Jahr 49 Tage jünger als sein Zwillingsbruder. Mermin, Emeritus der Cornell University im Bundestaat New York, schreibt: "Was sie so faszinierend macht, ist, dass die Relativitätstheorie enthüllt, dass die Natur der Zeit sich erschreckend von dem unterscheidet, was man zuvor als selbstverständlich annahm." Warum die Relativität der Zeit so lange unentdeckt blieb, obwohl sie ein Gedanke ist, der unser Weltbild massiv verändert, erklärt Mermin damit, dass sie in Alltagsphänomenen kaum beobachtet werden kann.

Symmetrie von Zeit und Raum

In der Allgemeinen Relativitätstheorie entwarf Einstein zudem die Vorstellung, dass nicht nur die Geschwindigkeit das Zeitmaß verändert, sondern auch die Gravitationskraft eine Rolle dabei spielt: In Einsteins Verständnis müssen Raum und Zeit symmetrisch betrachtet werden: im Rahmen einer vierdimensionalen Raum-Zeit. Die Zeit ist damit nicht nur ein Parameter, der mit einer Uhr gemessen wird, sondern wird selbst zur Koordinatenachse.

Obwohl diese Überlegungen sehr theoretisch erscheinen, haben sie beobachtbare Konsequenzen und sind vielfach experimentell bestätigt: In der Ablenkung von Lichtstrahlen bei einer Sonnenfinsternis, in der Satellitennavigation oder bei GPS - ohne relativistische Berechnungen würde dieses nicht funktionieren.

Dennoch ist das Zeitverständnis der Physik mit der Relativitätstheorie nicht besiegelt. Neben der Relativität gibt es eine zweite große Theorie der modernen Physik: die Quantenmechanik.

In der immer noch ausstehenden Vereinheitlichung dieser beiden Theorien ist es gerade das Konzept der Zeit, das die Physiker vor Probleme stellt. Im Gegensatz zur Relativitätstheorie spielt die Zeit in der Quantenmechanik eine untergeordnete Rolle gegenüber dem Raum.

Die Physik hinter dem Wurmloch

In das Hauptgesetz der Theorie, die Schrödingergleichung, geht die Zeit nur als Parameter ein, in der sogenannten stationären Schrödingergleichung, mit der etwa Elektronen im Atom beschrieben werden können, kommt die Zeit nicht einmal vor.

Die Zeit als Parameter in der einen Theorie, als Koordinatenachse in der anderen - das geht nicht zusammen, und entsprechend schwierig ist die Suche nach einer "theory of everything", für die momentan etwa Stringtheorie und Quantengravitation gegeneinander antreten.

Warum es so schwierig ist, die Zeit quantenmechanisch zu fassen, erklärt Mermin damit, dass Zeit "ein makroskopisches Konzept ist" - wir messen sie mit makroskopischen Uhren. Die Effekte der Quantenmechanik sind hingegen vor allem im mikroskopischen Bereich sichtbar.

Ist die Zeit also die wesentliche ungelöste Frage, die noch im Weg steht, um eine physikalische Gesamttheorie zu finden? Mermin: "Vielleicht geht es dabei um die Zeit, vielleicht um den Raum, wahrscheinlich um die Frage, was wir unter Realität verstehen."

Folgt man Interstellar, gibt es nur einen Weg zu den entscheidenden Einsichten, um Relativitätstheorie und Quantenmechanik zu vereinen und damit auch das Geheimnis der Zeit zu lüften: die Reise durch das Wurmloch. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 6.12.2014)