US-Psychologe Robert Levine nennt als Beispiel für ein langsames Leben Bhutan. Hier entstand der Ausdruck "Bruttonationalglück".

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Alle 20 Meter die mobilen Daten checken: Das verursacht zwangsläufig Stress.

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Bei Ihnen sollte es nun halb zehn Uhr früh sein, denn hier ist es 30 Minuten nach 18 Uhr.

Levine: Lassen Sie mich kurz nachschauen ... Ja, es ist halb zehn.

Gut. Wir haben das ja ausgemacht. Ich rufe Sie also pünktlich an. Müssen Sie oft pünktlich sein?

Levine: Für mich ist das gar kein so großes Thema, wie es das wahrscheinlich für Sie ist: Sie haben als Journalist Abgabetermine, haben täglich Stress. Ich bin in der einmaligen Lage, dass ich das nicht habe. Ich beginne eine Arbeit und beende sie ohne Zeitdruck.

Und wie wichtig ist Ihnen Pünktlichkeit bei anderen? Sie schrieben im Buch "Eine Landkarte der Zeit", das vor 17 Jahren erschienen ist, wie sehr Sie die Unpünktlichkeit in Brasilien während einer Gastprofessur an der Universidade Federal Fluminense genervt hat.

Levine: Sie haben recht. Obwohl mir schon klar war, dass das Lebenstempo in Brasilien anders ist als in den Vereinigten Staaten, dass Zuspätkommen natürlich dazugehört, war ich doch recht überrascht, was Zeit in diesem Land bedeutet. Studenten kamen eine Stunde zu spät - und hatten ein entspanntes Lächeln im Gesicht. Ich dachte ab einem Moment wirklich, dass man mir die Zeit stiehlt und empfand das als Respektlosigkeit. Irgendwann bat ich bei Terminvereinbarungen, man möge mir doch rechtzeitig Bescheid geben, wenn es später wird. Als Antwort kam nur ein "Nenhum problema", "Kein Problem", "Ich werde pünktlich sein" - und sie waren es natürlich nicht. Das hat mich geärgert. Hätten sie mir das doch vorher gesagt. Brasilien war aber vor allem deswegen seltsam, weil die Leute auch am Ende des Termins keine Eile hatten wegzugehen. Die Studenten verließen nicht sofort den Hörsaal, die Leute blieben nach Terminen bei mir im Büro sitzen.

Haben Sie sich an diesen Umgang mit Zeit jemals gewöhnen können?

Levine: Ich habe mit brasilianischen Freunden gesprochen, die mich zu mehr Gelassenheit ermahnten. Sie sagten, ich sei das Problem, nicht die Brasilianer. Ich müsste versuchen, endlich ihren Umgang mit der Zeit, also ihre Kultur zu akzeptieren. Sie seien in diesem Rhythmus aufgewachsen. Ihr Umgang mit Zeit ist genauso eine Sprache wie unser Umgang mit Zeit. Es sei außerdem logisch, auf die Frage, ob sie auch wirklich pünktlich sein werden, "Ja" zu sagen. Niemand könne da "Nein" sagen. Das "Ja" war also nichts anderes als eine höfliche Floskel, die nicht unbedingt etwas zu bedeuten hatte. Ich dachte dann darüber nach und bemerkte, wie viele höfliche Floskeln wir in der westlichen Kultur haben. Wenn wir in den USA einen alten Bekannten auf der Straße sehen, sagen wir: "Wir sollten essen gehen!" Zur Antwort kommt: "Ja, das sollten wir." Aber keiner von beiden denkt wirklich daran, essen zu gehen.

War das der Anfang Ihrer Beschäftigung mit den kulturellen Unterschieden im Zeitmanagement?

Levine: Das war wohl, als ich erwachsen wurde. Ich hatte hohe Ansprüche an mich und wollte Erfahrungen sammeln. Es ging mir nicht so sehr darum, Geld zu verdienen. Ich dachte darüber nach, wie die Menschen ihre Tage verbringen, was sie in ihrer Arbeit machen, wie sie ihr Leben gestalten. Dazu kam dann die Lust auf Reisen und darauf, andere Kulturen und andere Länder kennenzulernen. So entstand die Beschäftigung mit der Zeit. Ich habe ja letztlich 31 Länder bereist. Ich bin dabei auf schöne Dinge gestoßen. In Madagaskar werden dreißig Minuten als die Zeit zum Reis kochen definiert.

Das Buch "Eine Landkarte der Zeit" wurde 1997 veröffentlicht. Was hat sich seither geändert? Ist die Welt schneller geworden?

Levine: Wenn wir über den Rhythmus des Lebens reden, können wir das jetzt auf viele verschiedene Arten machen. Wenn wir diskutieren, ob die Menschen schneller gehen, muss ich sagen: Ich habe keine validen Daten. Ich vermute nur, dass es sich in den vergangenen zwanzig Jahren gar nicht geändert hat. Das führt mich zur zweiten Sichtweise. Empfinden wir das Leben heute schneller und hektischer, als wir es vor zwanzig Jahren empfunden haben? Das ist ganz sicher so. Da muss ich aber einschränkend sagen: Die Menschen tendieren dazu, die alten Zeiten als entspannter und ruhiger zu sehen als die Gegenwart. Das war immer schon so. Ich glaube, vor zwanzig oder auch vor hundert Jahren war diese Wahrnehmung ganz ähnlich.

Ist die Hektik unserer Tage wirklich nur eine subjektive Wahrnehmung?

Levine: Ich denke schon. Es gibt nur einen tatsächlichen Wandel in den Jahren seit Veröffentlichung des Buches: Heute gehen die Menschen keine 20 Meter auf der Straße, ohne ihre Daten zu checken. Das Volumen der Inhalte, die man im Laufe eines Tages liest, scheint für viele dieser Heavy-User nicht mehr bewältigbar zu sein. Das ist logischerweise belastend. Sie haben daher dieses unangenehme Gefühl, dafür wenig Zeit zu haben. Dabei müssten sie eigentlich nur versuchen, irgendwann einmal offline zu sein.

Eine Welt ohne Internet - ist das für Sie in der westlichen Welt überhaupt noch vorstellbar?

Levine: Nein. Man muss aber festhalten, dass das Internet von der Mehrheit der Weltbevölkerung noch immer nicht genutzt wird. Ich habe vor kurzem Statistiken gesehen, wonach etwa 40 Prozent der Weltbevölkerung online sind. Die übrigen 60 Prozent sind es daher nicht. Diese Leute leben nach einem ganz anderen Zeitgefühl als wir. Wir vergessen manchmal: Es gibt nach wie vor Völker, deren Tagesablauf ausschließlich von der Natur geprägt ist, nicht von Daten und Nachrichten.

Kennen Sie solche Völker?

Levine: Ich kenne zumindest ein Land, dessen Gesellschaft bis heute sehr traditionell lebt. Das Königreich Bhutan in Asien wurde erst langsam in die Gegenwart geführt. Sie kennen diese Geschichte vielleicht. Der König des Landes sprach in den 1980er-Jahren von einem Bruttonationalglück - und hat damit die Idee einer nachhaltigen gesellschaftlichen Entwicklung unter Bedachtnahme auf kulturelle und materielle Werte einem raschen Wirtschaftswachstum vorangestellt. 1998 stellte er sich selbst unter die Autorität eines Parlaments. Das hat die Menschen in Bhutan sehr irritiert. Mittlerweile kam die Industrie ins Land, der Tourismus hat Bhutan entdeckt, es gibt erstmals so etwas wie Wettbewerb. Man wird sehen, wie sich das Land in nächster Zeit weiter entwickelt. Es nähert sich der westlichen Realität und daher auch unserem Lebensrhythmus.

Viele Menschen, die unter Stress leiden, würden sich die Langsamkeit von Bhutan oder irgendeines Paradieses wünschen. Würde sie das aber glücklicher machen?

Levine: Das ist die große Frage. Ich glaube nicht. Viele sagen: Ich habe keine Zeit mehr für irgendetwas, ich bin im Hamsterrad und komme nicht mehr heraus; ich wünschte, ich müsste gar nicht mehr arbeiten. Dazu kann ich nur sagen: Wenn ich in der Lage wäre, in einem solchen Paradies zu leben, kein Geld verdienen zu müssen und alles zu haben, was ich brauche, würde mich das mehr stressen als jede Art von Stress, die ich jetzt habe. Wissenschafter fragen Menschen, wie viel Freizeit sie brauchen. Die Antwort ist immer, trotz des sehnsüchtigen Wunsches, nicht so viel Stress zu haben: nicht zu viel. Da muss man wirklich ehrlich zu sich sein und sich fragen: Wie viel Stress brauche ich? Und ab wann ist es mir wirklich zu viel?