Lukrez, "Über die Natur der Dinge". Neu übersetzt und reich kommentiert von Klaus Binder. € 41,20 / 405 Seiten. Galiani, Berlin 2014

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Die Rekonstruktion eines mittelalterlichen Bücherfunds war für viele das Buch des Jahres 2012. In seinem Pulitzer-Preis-gekrönten Werk Die Wende. Wie die Renaissance begann erzählte der Harvard-Literaturwissenschafter Stephen Greenblatt, wie der päpstliche Sekretär und "Bücherjäger" Poggio Bracciolini im Jahr 1417 eine sensationelle Entdeckung machte, die weitreichende Folgen haben sollte.

Bracciolini war vermutlich in der Benediktinerabtei von Fulda auf die Abschrift des Lehrgedichts De rerum natura von Lukrez gestoßen, das vermutlich im Jahr 60 vor unserer Zeitrechnung verfasst worden war und so etwas wie eine Flaschenpost aus dem Alten Rom mit hochbrisantem Inhalt war. Das buchlange Poem hatte nämlich die Essenz einer vergessenen und verdrängten Denkschule der Antike bewahrt: die des Epikureismus.

Von dieser ganz am Diesseits ausgerichteten, ziemlich gottlosen Lehre, für die Lust (im Sinn von Schmerzvermeidung) das höchste anzustrebende Gut ist, gab es bis dahin kaum Originalquellen. Zudem lieferte das epische Gedicht ein umfassendes, materialistisches Bild des Universums und trug so zur Widerentdeckung der Antike bei, mithin zur Renaissance.

Greenblatts famose Studie führte wiederum zur Neuübersetzung von De rerum natura und damit zu einer kleinen Renaissance des Buchs, fast 600 Jahre nach seiner Wiederentdeckung: Der Greenblatt-Übersetzer Klaus Binder übertrug diese in sechs Kapitel unterteilte und in Hexametern verfasste Bibel des sinnlichen Materialismus in ein frei rhythmisierendes entstaubtes Deutsch und reicherte sie mit ausführlichen Kommentaren an, die helfen, die Aktualität, aber auch die Schönheit des Lehrgedichts dingfest zu machen.

Die rund 6000 Verse enthalten tatsächlich mehrere Bücher in einem: Sie sind antike Atomphysik ebenso wie Psychologie, Wahrnehmungs- und Kulturtheorie. Was macht Über die Natur der Dinge mehr als 2000 Jahre nach seinem Entstehen zu einer lohnenden Lektüre?

Das, was in dem Text Wissenschaft ist, hat sich zum Teil - so wie die Atomtheorie - zwar in jüngster Zeit in gewisser Weise bestätigt. Diese Abschnitte sind nicht zuletzt aber auch deshalb lesenswert, weil sie zeigen, wie viel wir dank der modernen Forschung besser wissen als damals. Zugleich machen diese Kapitel aber auch offenbar, dass uns eine in jeder Hinsicht sinnliche Wahrnehmung der Welt wiederbringlich abhandenkam.

Die philosophische Kernbotschaft des Epikureers Lukrez besteht darin, dass wir uns und den anderen möglich viel Genuss verschaffen sollten. Das bedeutet nun gerade nicht, dem Hedonismus zu frönen, sondern die Vermeidung von Leid und ein einfaches, gelassenes Leben. So enthält das Buch auch lebenspraktische Hinweise - etwa in Beziehungsdingen: Man vermeide es, sich durch allzu große Liebe Leid zufügen. Etwas eskapistisch aber doch auch bedenkenswert ist schließlich Lukrez' Botschaft zum Sterben und dem möglichen Leben danach: "Der Tod geht uns nichts an." Und aus. (Klaus Taschwer, DER STANDARD, 10.12.2014)