Unruhige Kinder gab es schon immer. Manche meinen, erst das gesellschaftliche Umfeld mache ein Problem daraus.

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Eine Schule irgendwo in Europa: Das Glockensignal läutet, die Kinder wuseln fröhlich quasselnd zu ihren Klassen. Drinnen geht's zunächst nicht leiser zu. Erst nachdem der Lehrer explizit darum gebeten hat, kehrt Ruhe ein. Doch einer hat anscheinend nichts gehört. Der Junge wetzt herum, schiebt seinem Nachbarn ein Heft in den Nacken. Tumult. Herr Lehrer rollt mit den Augen. Es ist immer derselbe.

Unkonzentrierter Nachwuchs

Schon Heinrich Hoffmann beschrieb Mitte des 19. Jahrhunderts den Typus des kindlichen Unruhegeistes und nannte ihn "Zappel-Philipp". Der Begriff ist heute wohl mehr denn je in der Alltagssprache verankert. Lehrkräfte und Eltern klagen zunehmend über schwer zu bändigenden Nachwuchs.

Die Kleinen seien unkonzentriert, hibbelig und ständig zu Unfug aufgelegt. Längst hat das Phänomen ein medizinisches Etikett bekommen. Aufmerksamkeitsdefizit- und Hyperaktivitätsstörungen lautet der Sammelbegriff, kurz ADHS.

Den meisten vorliegenden Erhebungen zufolge sind in den westlichen Industrieländern vier bis sechs Prozent aller Kinder und Jugendlichen von ADHS betroffen - Mädchen signifikant weniger als Buben. Etwa die Hälfte von ihnen leidet auch im Erwachsenenalter noch darunter. Als klar definierbares Krankheitsbild ist die Störung nur schwer fassbar. Das gilt auch für die möglichen Ursachen.

Physiologisch lasse sich ADHS nicht nachweisen, erklärt Josef Marksteiner, Leiter der Abteilung für Psychiatrie und Psychotherapie am Landeskrankenhaus Hall, "es ist eine rein klinische Diagnose". Die Beurteilung erfolgt auf Basis von Befragungen und Verhaltensevaluierungen, die Ergebnisse werden nach speziellen Kriterientabellen ausgewertet.

Viele Formen von ADHS

ADHS kann allerdings in vielerlei verschiedenen Abstufungen auftreten, betont Marksteiner, und nicht jeder Betroffene ist unbedingt therapiebedürftig. "Ein Teil der Menschen kommt damit gut zurecht." Zur Behandlung der Störungen stehen sowohl Präparate wie auch nichtmedikamentöse Methoden zur Verfügung. Beide Strategien sind umstritten.

Manche Ärzte empfehlen im Kampf gegen ADHS verhaltenstherapeutische Ansätze oder die Einhaltung bestimmter Diäten. Die Wirksamkeit solcher Maßnahmen scheint zwar von einigen Untersuchungen belegt zu werden, doch eine 2013 publizierte vergleichende Analyse des Expertengremiums "European ADHD Guidelines Group" konnte solche Effekte kaum bestätigen (siehe "American Journal of Psychiatry", Bd. 170, S. 275).

Demnach zeigen nur die Verabreichung von freien Fettsäuren als Nahrungsergänzung sowie der Verzicht auf künstliche Farbstoffe einen geringen, aber nachweisbaren Zusammenhang mit der Linderung von ADHS-Symptomen. Wie diese Wirkung zustande kommen könnte, ist unklar. "Gesunde Ernährung hat einen Stellenwert", sagt Marksteiner. "Aber es liegt bei ADHS-Patienten so gut wie nie ein direkter Mangel vor."

Ritalin nur symptomatisch

Viele Betroffene werden heutzutage mit Methylphenidat, besser bekannt als Ritalin, behandelt. Der Stoff greift in den Dopamin-Haushalt des Gehirns ein und fördert so unter anderem die Konzentrationsfähigkeit. Den bisherigen Erkenntnissen nach scheint Ritalin allerdings nur symptomatisch gegen ADHS zu wirken. Eine langfristige Heilung kommt nicht zustande.

Für die Bewältigung des Alltags kann das Medikament jedoch gute Dienste leisten, meint Marksteiner. Ob der Einsatz sinnvoll sei, müsse man pragmatisch von Fall zu Fall beurteilen. "Ungefähr ein Drittel unserer Patienten möchte keine Medikamente nehmen." Methylphenidat könne durchaus unangenehme Nebenwirkungen hervorrufen. Daher sei vor allem zu Therapiebeginn eine vorsichtige Dosierung geboten.

Die Kritiker medikamentöser Therapien führen noch ein anderes Argument ins Feld: ADHS ist womöglich gar keine Krankheit, meinen sie, sondern lediglich eine Art Persönlichkeitsmerkmal. Manche Menschen seien nun einmal agiler und impulsiver als andere.

Das gesellschaftliche Umfeld mache dies erst zu einem Problem. Die moderne Schule mit ihrem Leistungsdruck und dem stundenlangen Stillsitzen stehe diametral den natürlichen Bedürfnissen der Kinder entgegen. Vor allem dem Bewegungsdrang. Ein gesunder Ausgleich durch viel Sport und Spiel wäre das beste Mittel gegen exzessives Zappelphilipp-Verhalten, so Marksteiner.

ADHS ernst nehmen

Trotzdem kann ADHS nicht verharmlost werden. Forscher haben inzwischen mehrere Genvarianten entdeckt, die bei Betroffenen überdurchschnittlich häufig auftreten. Sie betreffen die biochemische Signalübertragung im Gehirn. Aus wissenschaftlicher Sicht sind diese mutmaßlichen genetischen Komponenten hochinteressant. Deren Häufigkeit lässt nämlich vermuten, dass die Träger auch gewisse Vorteile haben - oder hatten. Sonst wäre das für die Entstehung der ADHS-Merkmale verantwortliche Erbgut schon längst aus dem Genpool verschwunden.

2006 veröffentlichten die britischen Forscher Jonathan Williams und Eric Taylor eine umfassende Analyse des positiven Potenzials von Hyperaktivität. Ihr Fazit: Einzelne Personen mit abweichendem Verhalten dürften aufgrund ihrer Risikobereitschaft für soziale Verbände von Wert sein. So gelinge es der Gruppe schneller, neue Ressourcen zu erschließen oder sich an veränderte Umweltbedingungen anzupassen.

Für die Draufgänger selbst ist das mit Risiken verbunden. Gleichzeitig jedoch dürften sie über eine hohe sexuelle Attraktivität auch den eigenen Fortpflanzungserfolg steigern. Bleibt die Frage, ob ein solcher evolutionsbiologischer Effekt auch heute noch von Bedeutung ist. Stoff für Debatten. (Kurt de Swaaf, DER STANDARD, 10.12.2014)