August Pradetto forscht und lehrt seit 1992 an der Helmut-Schmidt-Universität der Deutschen Bundeswehr in Hamburg.

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Eine Frau trauert am Hügel von Sawur-Mohila in der Nähe der ostukrainischen Großstadt Donezk um die Toten in dem seit Monaten andauernden Konflikt zwischen Regierungssoldaten und Separatisten.

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STANDARD: War Europa ansatzweise vorbereitet auf die Entwicklungen im Ukraine-Konflikt?

August Pradetto: Die Lage hat sich für alle überraschend entwickelt, nicht nur für Brüssel oder Berlin, auch für Moskau. Vor einem Jahr, als in Vilnius beim EU-Gipfel das ukrainische Assoziationsabkommen unterzeichnet werden sollte, gingen Brüssel wie Moskau von der Stabilität ihrer strategischen Partnerschaft aus. Dann wurden aber eine Reihe von Fehlern gemacht. Man hatte zu wenige Kenntnisse der schwierigen Verhältnisse innerhalb der Ukraine und der Konsequenzen für die Beziehung zwischen Kiew und Moskau. Man sagte bloß: "Das ist der nächste große Markt in Europa, 44 Millionen Konsumenten, überdies hat die Ukraine Reformen nötig." Das war, überspitzt formuliert, die Mentalität.

STANDARD: Europa war also ahnungslos?

Pradetto: Die Ukraine war damals schon praktisch zahlungsunfähig, von Reforminvestitionen ganz zu schweigen. Der damalige Präsident Wiktor Janukowitsch hat von der EU eine, von Moskau aber 15 Milliarden Dollar angeboten bekommen – zusammen mit der Perspektive einer eurasischen Union. Das EU-Abkommen hätte bedeutet, dass die EU in die Ukraine Waren einführen kann, die dann aufgrund von Wirtschaftsvereinbarungen Kiews mit Moskau nach Russland gelangen und die dortige Produktion gefährden könnten. Solche Fehler haben zur Eskalation der Lage beigetragen.

STANDARD: Wie geht es nun weiter?

Pradetto: In Russland kommen wieder Einkreisungsängste hoch. Man kann noch so oft sagen: "Das ist Blödsinn, niemand bedroht Russland." Doch wenn Moskau das so wahrnimmt, dann wird das eben ein Faktor ihrer Außenpolitik.

STANDARD: Wie soll der Westen darauf reagieren?

Pradetto: Es gibt Tendenzen, die NATO gegen Russland in Stellung zu bringen. Einigen scheint ein neuer kalter Krieg ein gangbares Szenario zu sein. Aber Moskau ist zu schwach, um einen Krieg provozieren zu können, der über das hinausgeht, was in der Ostukraine passiert. Gleichzeitig gibt es eindeutige Hinweise, dass Moskau den Konflikt nicht weiter verschärfen oder die Ukraine aufteilen will; dass man zu einer kooperativen Normalität mit dem Westen gelangen möchte. Und der Westen? Der signalisiert etwa durch die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, dass man die Situation ebenfalls nicht verschärfen will. Im Gegensatz zu einigen NATO-Partnern.

STANDARD: Sie meinen damit Polen?

Pradetto: Nicht nur: alle jene, die eine Massierung von Truppen an der Ostgrenze des NATO-Raumes und stärkere Präsenz verlangen. Das wären zwar nur symbolische Vorgänge gewesen, könnten aber auch zu einer Verschärfung der Situation beitragen. Das betrifft auch Forderungen nach einer neuen, auf Russland bezogenen Aufrüstung der Allianz.

STANDARD: Werden wir es mit einem "frozen conflict" zu tun bekommen?

Pradetto: Ich hoffe auf einen dauerhaften Waffenstillstand. Es bergen "eingefrorene Konflikte" zwar das Potenzial, wieder auszubrechen; doch wenn sich alle Seiten weitgehend vernünftig verhalten, kann man langfristige Lösungen entwickeln. Die Wahrnehmung, dass ein "frozen conflict" nicht eintreten darf, kann auch zu einer Verschärfung führen. Das birgt für keine Seite einen Vorteil.

STANDARD: Die Lösung liegt also nicht in der militärischen Auseinandersetzung?

Pradetto: Die Lösung liegt in einer für beide Seiten akzeptablen Autonomieregelung. Die Ukraine ist das am meisten heruntergewirtschaftete Land Europas. Die Elite dieses Landes hat es in 25 Jahren geschafft, diesem Land so viel Potenzial zu entziehen, dass es auf dem Niveau eines Dritte-Welt-Landes ist. Das ist die Hauptursache für den Konflikt. Das hat zur Polarisierung innerhalb des Landes geführt. Weder der Westen noch Moskau tragen die Hauptschuld an der Krise, wenn schon von außen zur Verschärfung beigetragen wurde. Die Hauptakteure sitzen auch in Bezug auf eine Lösung in der Ukraine. Allerdings hat sich bisher nur graduell etwas an der Mentalität geändert, bloß autoritär und allein den eigenen Interessen folgend agieren zu wollen.

STANDARD: Sie sprechen auch vom aktuellen Präsidenten Petro Poroschenko?

Pradetto: Poroschenko hat, kaum war er gewählt, begonnen, das Problem mit militärischen Mitteln lösen zu wollen, und da wurde er von den USA unterstützt. Das hat mit dazu geführt, dass die Separatisten im Osten immer stärker von Moskau unterstützt wurden. Dadurch wurde der Konflikt internationalisiert. Eine solche Politik ist nicht tragfähig.

STANDARD: Wie soll der Konflikt also eingedämmt und eingefroren werden?

Pradetto: Etwa durch eine Erweiterung des Minsker Abkommens zwischen Kiew und den Separatisten; durch eine OSZE- oder UNO-Mission; durch eine entsprechende militärische Sicherungskomponente. Die Konfliktparteien müssten sich darauf verständigen, eine Art Pufferzone zu schaffen, sodass Scharmützel, die jederzeit in eine schärfere Auseinandersetzung münden können, unterbunden werden. Es droht sonst eine Dynamik, die nicht zu kontrollieren ist. Schon allein die Anwesenheit solcher internationaler Sicherungskräfte könnte nützlich sein. Dann haben wir zwar in der Realität einen "frozen conflict", aber wenigstens wird dann die Ukraine nicht weiter zerstört. Es besteht dann wenigstens die Chance, etwas für die Menschen dort zu tun. (Gianluca Wallisch, DER STANDARD, Langfassung, 11.12.2014)