Wien – Im Jahre 1271 treten die Brüder Niccolò und Matteo Polo ihre zweite Asienreise an. Dieses Mal begleitet sie Niccolòs siebzehnjähriger Sohn Marco. Vier Jahre dauert die Reise, ehe sie am Hof des mächtigen Kublai Khan in China eintreffen. Der Großkhan ist von dem jungen und gelehrigen Mann beeindruckt und nimmt ihn in seine Dienste. Marco wird 16 Jahre bleiben.

So ist es in den Geschichtsbüchern zu lesen. Viel mehr lässt sich freilich nicht ganz so lückenlos rekonstruieren. Grund genug für den derzeit gefragtesten TV-Produzenten, seiner Fantasie freien Lauf zu lassen.

Das sieht dann so aus: Drei gutaussehende Europäer landen im Reich der Mitte. Sie betreten einen prächtigen Palast, an dem ein asiatischer Dickwanst sein unberechenbares Regiment führt. Der gut wimperngetuschte Titelheld bleibt beim dicken König, lernt Sitten und Traditionen bei Hofe kennen, inklusive fernöstlicher Kampfeskunst und ekstatischer Erwachsenenspiele, während draußen ein Massaker nach dem anderen tobt. Und wer es jetzt noch nicht weiß: Das alles sind unabdingbare Zutaten für einen kalkulierten Erfolg im amerikanischen Abofernsehen.

Foto: Netflix

Auf die bewährte Mischung aus Blut, Schweiß, Tränen und viel Computertechnik setzt der US-Streamingdienst Netflix bei seinem Sechsteiler "Marco Polo", den Abonnenten ab sofort im Web abrufen können. Showrunner ist der im Fach der Martial Arts erfahrene Autor John Fusco ("The Forbidden Kingdom").

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Unter den Produzenten sind Joachim Rønning und Espen Sandberg, beide durch "Pirates of the Caribbean" erfahren im Fach der optisch ansprechenden Filmklopferei. In den Hauptrollen spielen Lorenzo Richelmy und Benedict Wong. Gedreht wurde in Venedig, Kasachstan und Malaysia mit einem Maximalaufgebot an Material und Massensterben.

Um unglaubliche 72,6 Millionen Euro wurde das TV-Epos um den kühnen Weltreisenden ausgestattet. Auf dass die Braut auf dem Heiratsmarkt der Fernsehproduktionen gute Figur macht und Millionen von Zuschauern sie nicht missen wollen, bevor sie nicht alles gegeben hat.

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In den besten Szenen wird man dergleichen Opulenz lustvoll folgen. Die Handlung hingegen ist weitgehend von enttäuschender Schlichtheit, unnötiger Brutalität und mitunter absurder Frauenverachtung gekennzeichnet und stellt damit einen Wendepunkt in der Produzentengeschichte von Netflix dar: Während bisher Wert auf ungewöhnliche und intelligente Programme wie die Politserie "House of Cards" (dritte Staffel am 27. Februar 2015) oder das Häfendrama "Orange Is the New Black" (dritte Staffel ab Juni 2015) gelegt wurde, scheint hier allzu auffällig mit dem erfolgreichen Fantasiespektakel "Game of Thrones" vom Konkurrenten HBO kokettiert zu werden.

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53 Millionen Abonnenten zählt der Videodienst mittlerweile. In 40 Ländern ist er verfügbar, seit Herbst auch in Österreich. Das Unternehmen setzt weiterhin stark auf Expansion. Als nächste Märkte peilt Netflix-Boss Reed Hastings den asiatischen Raum an. Das Drama um den jungen Krieger soll vermutlich den Boden bereiten.

Die Kunst der epischen Erzählung im Gefäß der Serie ist eine hohe. Oder, um es mit einer alten Zen-Weisheit zu sagen: Wer die Technik beherrscht, ist noch lange nicht Meister. (Doris Priesching, DER STANDARD, 12.12.2014)

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