Jetzt hat die Volkspartei also steuerreformatorisch zurückprovoziert, nachdem sie von der SPÖ in unerhörter Weise um einen Tag vorausprovoziert worden war, wie Kommentatoren, die jeden Geistesblitz aus dem ÖVP-Generalsekretariat willig in sich einschlagen lassen, nicht oft genug feststellen konnten. An den jeweiligen Vorschlägen ist jedenfalls nicht abzulesen, wo bei all dem die Provokation liegen sollte. Sie überschreiten das lange Breitgetretene kaum und das Zumutbare nur dort, wo es zu erwarten war: dass sich nämlich die unter Steuerdruck leidende Mehrheit der Bevölkerung versprochene Erleichterungen möglichst selbst finanzieren soll, etwa durch Erhöhung der Mehrwertsteuer oder Vereinfachungen im Steuerrecht - alles, damit Vermögen nicht auch noch leiden müssen. Angeblich schließen beide Konzepte, so wie sie vorliegen, einander aus, was, wenn's zutrifft, hilfreich wäre, denn im Wahlkampf will man Klarheit. Und der läuft nun einmal, auch wenn noch nicht entschieden ist, ob er schon im März 2015 in Neuwahlen mündet. Dass ein Kompromiss jenen Sturm der Begeisterung hervorrufen wird, von dem sich die Regierung nur zu gern umfächeln lassen würde, erwartet niemand, Experten zu allerletzt.

Wäre die Steuerreform nur die einzige Baustelle, mit deren Schließung noch länger nicht zu rechnen ist! Wie lange ist etwa eine Verwaltungsreform im Gespräch, ohne dass Nennenswertes reformiert worden wäre. Auch eine Pensionsreform soll es richten. Und von Kleinigkeiten wie Bildung, Gesundheit, Bundesheer abgesehen, hakt es selbst bei Materien des täglichen Bedarfs. Der Regierungsentwurf zur Abschaffung des Amtsgeheimnisses ist die gemilderte Form eines Bürokratenschutzgesetzes und eine Provokation der Öffentlichkeit. In der Korruptionsbekämpfung soll eine minimale Verbesserung mit den Mängeln des geltenden Lobbyistengesetzes versöhnen. Experten warnen schon jetzt vor dem Islamistengesetz in der vorgelegten Form. Etc.

Kein Wunder, dass die nationale Sehnsucht nach dem Guten immer lauter in die Frage nach der moralischen Verantwortung in der Politik mündet und sich folgerichtig um die balsamische Erscheinung von Irmgard Griss rankt. Der Berufung von Politikern auf die Undurchschaubarkeit komplizierter Faktenlagen zur Zeit ihres Auftretens und auf die Zwänge der Alternativlosigkeit könnte man stattgeben, wenn sie nach Klärung der Fakten bereit wären, Verantwortung zu übernehmen und aus ihrem Unvermögen die Konsequenzen zu ziehen. Wenigstens der ÖVP ist zugutezuhalten, dass sie sich in der Causa Hypo ihrer Verantwortung gestellt hat, wenn auch mindestens zwei Finanzminister zu spät und ohne Garantien für die nächsten. Konsequenzen darüber hinaus wären ziemlich unösterreichisch.

Im Kurier weihte Frau Griss dem Verantwortungsgefühl heimischer Politiker einen schönen Gedanken. "Es ist wie eine griechische Tragödie. Überspitzt formuliert, man hat das Gefühl, einem unentrinnbaren Schicksal ausgeliefert zu sein." Nur dass hierzulande viel Wert darauf gelegt wird, dieses Gefühl über die Tragödie hinaus möglichst lange bis in das Satyrspiel zu genießen. (Günter Traxler, DER STANDARD, 12.12.2014)