Paul Fournel, "Anquetil - Mit Leib und Seele". € 19,90 / 160 Seiten. Egoth-Verlag, Wien 2014

"Mein armer Raymond, ich werde als Erster die Reise ins Jenseits antreten. Du wirst Zweiter sein, wieder einmal." Das soll der ewige Sieger auf seinem Sterbebett dem ewigen Zweiten ins Ohr geflüstert haben. 1987 ist Jacques Anquetil einem Krebsleiden erlegen, und wenn sie nicht stimmt, die Geschichte, so ist sie gut erfunden.

Schließlich gilt Anquetil gegen Raymond Poulidor, so hieß der ewige Zweite mit vollem Namen, als eines der großen Sportduelle des 20. Jahrhunderts, und es ist nicht auszuschließen, dass der sterbende Anquetil den sich - übrigens mit 78 Jahren heute noch - bester Gesundheit erfreuenden Poulidor, mit dem er gut befreundet war, ein letztes Mal aufziehen wollte. Poulidor, dessen Name in Frankreich als Synonym für Pechvogel durchgeht und der die Sterbebett-Story "nicht beschwören" will, hatte Anquetil zwar punkto Erfolg nie das Wasser reichen können. Die Sympathie der Fans aber galt dem Verlierer, wohingegen sie bei Anquetil nie so recht wussten, woran sie waren.

So haben sich die Geschichten also fast immer um Poulidor gedreht. Achtmal stand er auf dem Podest der Tour de France, dreimal als Zweiter, fünfmal als Dritter, aber ganz oben stand er nie. Die Fans, sie litten mit ihm. 1964 war Poulidor besonders knapp dran, beim Ritt auf den Puy de Dôme, einen Vulkan im Zentralmassiv, rieben er und Anquetil ihre Ellbogen aneinander. Doch Poulidor hatte nicht überrissen, dass Anquetil am Ende seiner Kräfte war, und zu spät attackiert. In Paris fehlten ihm 55 Sekunden auf Anquetil, der seinen fünften und letzten Sieg davontrug.

Es gibt aber auch Fans, die nicht zum Außenseiter halten. Paul Fournel war und ist ein solcher. Ein Fan von Jacques Anquetil. Der Pariser Fournel, Sohn eines Buchhändlers, ist Radfahrer aus Leidenschaft und Schriftsteller von Beruf. Als er ein Bub war, wurde er vom Vater zu Radrennen mitgenommen, Anquetil hat ihm von Anfang an imponiert. "Sein Pedaltritt war zu schön, um wahr zu sein. Er gaukelte Leichtigkeit und Anmut vor, er gaukelte Höhenritt und Wiegetritt in einer überwiegenden Männerdomäne vor, die Holzfällern, Pedalrittern und Arbeitstieren vorbehalten war." Und: "Hinzu kommt, dass Anquetil bei intensiver Anstrengung die Miene nicht verzieht, die Zähne nicht fletscht, mit dem Kopf nicht hin- und herwackelt."

Coppi, Anquetil, Brändle

Fournels Hommage an Anquetil ist 25 Jahre nach dessen Tod erschienen, 2012, Titel: "Anquetil tout seul". Nun, kürzlich, hat der Wiener Egoth-Verlag des ehemaligen Sportjournalisten Egon Theiner eine deutsche Übersetzung herausgebracht. "Anquetil - Mit Leib und Seele" lautet der nicht wirklich wörtlich übersetzte Titel. Mag sein, für "Allein Anquetil" oder allein für "Anquetil" liegen die Zeiten zu weit zurück. Freilich wird Egoth nicht nur den österreichischen, sondern auch den deutschen Markt im Auge haben. Die Deutschen sind nicht nur wesentlich mehr, sondern auch wesentlich erfolgreichere Radfahrer. Darüber kann auch die Tatsache, dass jener Stundenweltrekord, der einmal in Anquetils Besitz gewesen ist (46,159 Kilometer, anno 1956), aktuell einem Österreicher, dem Vorarlberger Matthias Brändle gehört, der kürzlich 51,852 Kilometer abgespult hat.

Anquetil hatte seinerzeit die fast 14 Jahre alte Bestmarke des legendären Italieners Fausto Coppi überboten. Auf einen Besuch Anquetils bei Coppi, der 1949 und 1952 die Tour gewann, nimmt auch Fournel Bezug. Anquetil, kaum dem Juniorenlager entstiegen, macht Coppi 1953 seine Aufwartung. Laut Fournel ahnt Coppi zu dem Zeitpunkt schon, dass ihn Anquetil bald überflügeln wird. Der Italiener bietet dem Franzosen listig seine Hilfe an, will ihn an seine Seite holen. Was macht Anquetil? "Ohne jegliches Zögern schlägt er den vorgezeichneten Weg aus. Er kennt seinen eigenen." Drei Jahre später wird Coppis Stundenweltrekord Geschichte sein, doch viele andere Erfolge Anquetils erlebt der Italiener nicht mehr mit. Coppi infiziert sich 1959 bei einem Rennen in Ostafrika mit Malaria, die Krankheit wird zu spät erkannt, Coppi erliegt ihr am 2. Jänner 1960 im Alter von vierzig Jahren.

Tod mit 53

Viele Radrennfahrer dieser Zeit sterben jung, manchmal hieß es, über den Toursiegern und den Trägern des Gelben Trikots würde ein Fluch liegen. Auch Anquetil wird nur 53 Jahre alt. Ein privates Geheimnis hätte er vielleicht für immer mit ins Grab genommen, wenn nicht seine Tochter Sophie viele Jahre später "Pour l'amour de Jacques" veröffentlicht hätte, ein Erinnerungsbuch. Anquetil hatte sich ein Kind gewünscht, seine Frau Janine, deren zwei Kinder aus erster Ehe er mit großgezogen hatte, konnte allerdings nicht mehr gebären. Also war Anquetil "entschlossen, dass er von Annie, seiner Stieftochter, ein Kind haben wird". Und: "Das einvernehmliche Einverständnis wurde in die Tat umgesetzt." Annie, die also Sophies Mutter und Stiefhalbschwester war, kam mit der Situation fünfzehn Jahre lang, dann aber nicht mehr zurecht und verließ das Schloss, das die große Familie bewohnte. Daraufhin wandte sich der wendige Jacques der Ex-Ehefrau seines Stiefsohnes zu, und dieser Zuwendung entsprang wiederum ein Sohn.

Allein Anquetils Privatleben also könnte Bücher füllen. Der Autor indes fängt damit wenig an, das ist nicht mehr der Anquetil, der ihn so fasziniert hat. Fournel springt hin und her. Einmal gibt er den Biografen, der sich Anquetils quasi etappenweise annimmt. Dann schreibt er aus der Sicht des Fans, der letztlich sogar zugibt: "Ich wäre gern Anquetils Freund gewesen." Und schließlich versucht er, sich in den Radrennfahrer hineinzuversetzen. Diese Passagen, in denen Anquetil in Ich-Form daherkommt, spiegeln manchmal auch den Hochmut wider, der ihm nachgesagt wurde. "Der Lärm verstummt. Das Fahrerfeld arbeitet und leidet. Ich ziehe das Tempo weiter an." (Fritz Neumann - DER STANDARD, 13.,12. 2014)