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Der Chefredakteur der islamischen Tageszeitung "Zaman" und Erdogan-Kritiker Ekrem Dumanli am Sonntag.

Reuters/Sezer

Athen/Ankara - Sie stehen auf den geschwungenen Balkonen in der weißen futuristischen Eingangshalle und unten im Foyer des Redaktionsgebäudes von "Zaman" in Istanbul, dem Flagschiff der frommen islamischen Presse und bis vor kurzem der auflagenstärksten Tageszeitung der Türkei. Sie klatschen und skandieren, auf ihren kleinen Schildern steht: "Auch wenn alle schweigen, "Zaman" schweigt nicht." Dann holt die Polizei den Chefredakteur aus dem Büro und schiebt Ekrem Dumanli in einem Pulk von Kameraleuten und laut protestierenden Kollegen durch die Halle zum Ausgang. Am Sonntag hat in der Türkei eine neue Verhaftungswelle gegen die Kritiker von Staatschef Tayyip Erdogan begonnen.

Polizeibeamte führen den Chefredakteur der Tageszeitung "Zaman" am Sonntag aus dem Redaktionsgebäude in Istanbul, begleitet von Protestrufen der Kollegen.
Zaman TV

Landesweit 32 Haftbefehle soll es bis zur Mittagsstunde schon gegeben haben. Auch hohe Polizeibeamte wurden wieder festgenommen. Doch im Internet kündigte ein angeblicher Regierungsmitarbeiter, der dem engen Kreis um Erdogan angehören will, schon längst viel Größeres an: Unter dem Pseudonym Fuat Avni berichtete der Maulwurf auf Twitter über einen Plan zur Festnahme von rund 400 Regierungsgegnern.

Den Beginn der Operation kündigte Fuat Avni ursprünglich für vergangenen Freitag an und überraschte damit offensichtlich die Behörden. Am Wochenende nannte er Sonntagfrüh als Start der Operation. So kam es dann auch. Bis 25. Dezember werde die Verhaftungswelle rollen, twitterte Fuat Avni.

"Zaman"-Chefredakteur Dumanli ist die Nummer zwei auf Avnis Liste. Er gilt als Vordenker und Sprachrohr des in den USA im selbstgewählten Asyl lebenden türkischen Predigers Fethullah Gülen. Auch ihn haben Staatspräsident Erdogan und seine Regierung ins Visier genommen. "Sie hatten meine Verhaftung schon geplant", behauptete Erdogan vergangenen Freitag in einer Rede vor Vertretern der türkischen Industrie- und Handelskammern, die er in seinem neuen Palast empfing. Gülen und seine Anhänger hätten sogar schon eine neue Kabinettsliste vorbereitet.

Gülens Auslieferung

Gülen führt nun die angebliche Verhaftungsliste an, wobei nicht klar ist, wie die türkische Regierung dessen Festnahme erreichen will. Die US-Regierung zeigte sich bisher ablehnend gegenüber Erdogans Wünschen nach einer Auslieferung des 73-jährigen ehemaligen politischen Weggefährten.

Dumanli und "Zaman", zu der noch eine Reihe anderer Medien gehören, hatten lange Jahre die konservativ-islamische Regierungspartei AKP gegen alle Angriffe verteidigt. Sie waren auch die hartnäckigsten Unterstützer der Putschprozesse gegen die türkische Armeeführung. Nach dem dritten Sieg Erdogans bei Parlamentswahlen 2011 begannen sich die Gülenisten aber langsam zu distanzieren. Dumanli wurde ein immer deutlicherer Kritiker von Erdogans autoritärem Kurs.

Verhaftet wurden am Sonntag auch der Chef des ebenfalls dem Gülen-Lager zugerechneten Fernsehsenders Samanyolu sowie Produzenten einer Serie des frommen islamischen Senders, die der Regierung zunehmend missfiel.

Weitere Festnahmen erwartet

Erwartet wurden auch die Festnahmen des Kolumnisten Emre Uslu und des Aufdeckerjournalisten Mehmet Baransu, die beide für die ebenfalls Gülen-nahe Tageszeitung "Taraf" schreiben und mit Berichten über den rasanten Machtzuwachs des türkischen Geheimdienstes MIT und dessen Spitzeltätigkeiten gegen Unternehmer und Oppositionsparteien den Zorn der Regierung auf sich gezogen haben.

Die Europäische Union hat die jüngsten Razzien scharf kritisiert. Das Vorgehen sei mit dem Recht auf Pressefreiheit nicht vereinbar und laufe den europäischen Werten zuwider, teilten die EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und Erweiterungskommissar Johannes Hahn in einer gemeinsamen Erklärung am Sonntagabend mit. Auch die USA zeigten sich besorgt. Sie riefen die Türkei "als Freund und Verbündeter" auf, nichts zu unternehmen, was gegen die Pressefreiheit und die Unabhängigkeit der Justiz verstoße, erklärte Außenministeriumssprecherin Jen Psaki in Washington.

Korruptionsaffäre jährt sich

Die neuerliche Verhaftungswelle in der Türkei ist im Zusammenhang mit den Korruptionsvorwürfen gegen die Regierung, regierungsnahe Geschäftsleute und gegen Erdogans eigene Familie zu sehen. Die Affäre jährt sich übermorgen, Mittwoch. Die damals noch von Erdogan geführte Regierung ließ als Reaktion auf Festnahmen und Ermittlungen tausende Staatsanwälte, Richter und Polizeibeamte versetzen, verschärfte Haftstrafen für Presseberichte über "sicherheitsrelevante" Angelegenheiten und gab der Polizei zuletzt noch weitere Handhabe bei Festnahmen.

"Die Verhaftungswelle ist Teil der Einschüchterungskampagne der Regierung. Wir sind nur die Nächsten, die an der Reihe sind", sagte der Ankara-Bürochef von "Today's Zaman", Abdullah Bozkurt, dem STANDARD. (Markus Bernath, DER STANDARD, 15.12.2014)