Trotz spektakulärer Fälle wie des Amoklaufs von Annaberg sank die Zahl der Opfer von Tötungsdelikten zuletzt auf ein Viertel der Werte der 1980er-Jahre.

Noch nie starben in Österreich weniger Menschen durch die Hand eines anderen als im Vorjahr. Zumindest besagt das die offizielle Todesursachenstatistik, in der seit den 1970er-Jahren alle Sterbefälle zentral dokumentiert werden.

2013 kamen laut Statistik Austria 36 Menschen durch die Folgen eines vorsätzlichen Tötungsdelikts ums Leben. In den Jahren davor war die Opferzahl nur unwesentlich höher. Blickt man aber Jahrzehnte zurück, so lagen die Werte auf einem bis zu viermal höheren Niveau. Im Jahr 1984 wurden 133 Menschen gewaltsam aus dem Leben gerissen. Das entspricht einer Tötungsrate von 1,76 pro 100.000 Einwohner. 2013 lag der Wert nur mehr bei 0,42.

Ein signifikanter Rückgang. Doch lässt sich daraus ableiten, dass die Gefahr für Leib und Leben heute geringer ist als im vergangenen Jahrhundert? Dass wir gar in einer friedlicheren oder zivilisierteren Gesellschaft leben? Wie meistens bilden derart simple Aussagen die Wirklichkeit nur unzureichend ab.

Denn "kurzfristige Entwicklungen in einzelnen Ländern anhand einer einzigen Datenquelle sind immer schwer zu interpretieren", sagt Walter Fuchs vom Institut für Rechts- und Kriminalsoziologie in Wien. Freilich gehe man bei Tötungsdelikten davon aus, dass sie – anders als die meisten anderen Straftaten in der Kriminalstatistik – am ehesten noch so etwas wie "wahre Kriminalität" widerspiegeln und nicht bloß Anzeige- und Sanktionierungspraktiken, sagt Fuchs. Dennoch seien auch hier mehr Zahlen für eine seriöse Verortung nötig.

Verurteilungszahl sank kaum

Einen ersten Angelpunkt bietet die gerichtliche Kriminalstatistik. Darin wird die Zahl jener Menschen dokumentiert, die wegen vorsätzlicher Tötungsdelikte verurteilt wurden. Dazu zählen die Straftatbestände Mord, Totschlag, Tötung eines Kindes bei der Geburt und Körperverletzung mit tödlichem Ausgang.

Anders als bei der Opferstatistik fällt die Tendenz dieser Kurve sehr viel flacher aus. In den 1970er-Jahren lag der Wert bei weniger als 0,9 Verurteilten je 100.000 Einwohner, in den vergangenen fünf Jahren bei rund 0,7. Weil die Opferzahl stark, die Verurteiltenzahl aber nur geringfügig sank, nähern sich die beiden Grafen umso weiter an, je näher sie der Gegenwart kommen.

Salopp gesprochen, gibt es heute weniger Opfer je Täter. Das könnte einerseits bedeuten, dass frühere Täter oft mehr als nur ein Opfer auf dem Gewissen hatten, also die Zahl an Serien- oder Massendelikten höher war. Die Kriminalstatistiken geben in dieser Frage keine Auskunft über das rechnerische Verhältnis zwischen Tätern und Opfern.

Doch Mehrfachdelikte waren in der österreichischen Rechtsgeschichte immer schon spektakuläre Ausreißer, deren Einfluss auf die langfristige Entwicklung der Verurteiltenstatistik marginal ist. Einzelfälle wie die "Todesengel von Lainz", Elfriede Blauensteiner, Franz Fuchs oder den Amokläufer von Annaberg gab es immer. Sie stechen aus dem Grundrauschen heraus, ein systematischer Rückgang von Serien- oder Massendelikten lässt sich dadurch aber nicht hinlänglich erklären.

Sank die Möglichkeit von "perfekten Verbrechen"?

Eine andere Ursache für die Lücke könnte sein, dass früher häufiger Todesopfer entdeckt wurden, denen die ermittelnden Behörden schlicht keinen Täter zuordnen konnten. Dafür würde sprechen, dass es heute effektivere Methoden gibt, um Tätern habhaft zu werden: Moderne Forensik wie DNA-Spuren am Tatort und die lückenlose Aufzeichnung von Bewegungsprofilen durch GPS-Ortung oder Videoüberwachung verhindern das "perfekte Verbrechen", bei dem der Schuldige ungeschoren davonkommt, womöglich eher als noch vor ein paar Jahrzehnten.

Eine gestiegene Aufklärungsquote bei Kapitalverbrechen würde dieses Argument erhärten. Doch sie veränderte sich kaum. Trotz besserer Ermittlungsmethoden sank die Aufklärungsrate im langjährigen Mittel bei Mord sogar ganz leicht ab. Sie lag außer 2012 dennoch stets über 90 Prozent.

Das früher auseinanderklaffende Größenverhältnis von Tätern und Opfern hat faktisch einen anderen Grund. Wie die gerichtliche Kriminalstatistik verrät, glich sich nämlich das Verhältnis von versuchten zu vollendeten Tötungen zuletzt an.

Laut Gesetz macht es keinen Unterschied, ob ein Mörder sein Opfer wirklich umbringt. Der Versuch kann prinzipiell gleich geahndet werden wie das vollendete Delikt, da der Tod in beiden Fällen gleichermaßen in Kauf genommen wird. Und deshalb werden in der Verurteilungsstatistik auch beide Fälle gleichermaßen berücksichtigt.

Nun kamen in den 1970er- und 1980er-Jahren auf eine Tat mit überlebendem Opfer bis zu vier Delikte mit tödlichem Ausgang. In den vergangenen fünf Jahren hingegen hielten sich die Verurteilungen wegen versuchter und vollendeter Mord- und Totschlagsdelikte annähernd die Waage. Die Wahrscheinlichkeit, ein Gewaltverbrechen zu überleben, stieg einfach stark an.

Parallel mit den vollendeten Morden ging auch die Zahl der tödlich endenden Körperverletzungen zurück. Beides weist laut Fuchs darauf hin, dass die Notfallmedizin seit den 1970er-Jahren große Fortschritte gemacht hat und dass auch die Verfügbarkeit von Mobiltelefonen, mit denen leichter Hilfe gerufen werden kann, die Todesfälle reduziert hat.

Massiver Rückgang bei Obduktionen

Schließlich liefert noch eine weitere Statistik eine mögliche Erklärung für die sinkende Opferzahl. Denn in einigen Fällen wird wohl gar nicht erst von einem vorsätzlichen Tötungsdelikt ausgegangen, deshalb wird weder von der Staatsanwaltschaft Anzeige erstattet noch von der Polizei ermittelt. Das legen die massiv gesunkenen Obduktionszahlen nahe.

Wurde in den 1980er-Jahren noch ein Drittel aller Verstorbenen von einem Leichenbeschauer untersucht, so waren es 2013 nur mehr 14,7 Prozent, Tendenz sinkend.

Und während Jahr für Jahr weniger Leichen obduziert werden und immer seltener "Mord, Totschlag oder vorsätzliche Verletzung" als Ursache für das Ableben im Totenschein steht, werden immer mehr Sterbefälle als "Ereignis, dessen nähere Umstände unbestimmt sind" deklariert.

Jährlich rund sechzig solcher Fälle blieben in den 1980er-Jahren liegen. Im neuen Jahrtausend stieg die Zahl sprunghaft auf 200 und darüber an. Ein erdrückendes Indiz dafür, dass nicht alle Tötungsdelikte auch als solche erkannt werden und mögliche Täter unbelangt bleiben.

Die sinkende Zahl an Gewaltopfern ist also nicht allein mit dem nominellen Rückgang an Verbrechen zu erklären – sondern vor allem mit einer höheren Überlebenschance der Angegriffenen und möglicherweise unerkannt gebliebenen Fällen.

Epilog

Davon auszugehen, dass die Dunkelziffer getöteter Menschen nicht nur wegen gerichtsmedizinisch übersehener Fälle wesentlich höher ist als die offizielle Zahl, sondern auch deshalb, weil viele Personen einfach verschwinden, ist übrigens ein Trugschluss. Laut den letzten verfügbaren Zahlen des Innenministeriums gibt es in Österreich nur 33 Menschen, die zehn Jahre oder länger vermisst sind. Und selbst in diesen relativ wenigen Fällen kann nicht ausschließlich von Verbrechen ausgegangen werden.

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Im weltweiten Vergleich

Noch schwieriger als die Interpretation einer nationalen Kriminalstatistik ist ihr internationaler Vergleich. Denn die jeweiligen Rechtssysteme gehen mit juristischen Begrifflichkeiten wie Vorsätzlichkeit oft unterschiedlich um. So kennt die britische Judikative für das Delikt Totschlag, das in Österreich in einem einzigen Satz geregelt ist, Unterteilungen in "voluntary manslaughter", "involuntary manslaughter", "constructive manslaughter" und "reckless manslaughter".

Das Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) versucht dennoch, in ihrer jährlichen "Global Study on Homicide" einen möglichst differenzierten weltweiten Vergleich zu erstellen. Berücksichtigt werden dabei nur, wie es heißt, "interpersonelle" Tötungen und keine Opfer von Terroranschlägen oder (para-)militärischen Auseinandersetzungen.

Laut den jüngsten Zahlen ist demnach Honduras das Land mit der höchsten Tötungsrate der Welt. 90,4 Menschen je 100.000 Einwohner starben 2012 in dem mittelamerikanischen Staat durch einen vorsätzlichen Tötungsdelikt. Das ist eine mehr als 200-mal höhere Quote als in Österreich.

Weniger Tötungen als in Österreich gibt es nur in zwölf der 215 untersuchten Staaten. Die wenigsten wurden in Liechtenstein (0), Singapur (0,2) und Island (0,3) verzeichnet. Auf der anderen Seite der Skala rangieren unmittelbar vor Honduras die ebenfalls lateinamerikanischen Staaten Venezuela (53,2), Belize (44,7) und El Salvador (41,2). Der weltweite Durchschnitt im Jahr 2012 betrug laut UNO 8,4 Tötungen je 100.000 Menschen. (Michael Matzenberger, derStandard.at, 29.12.2014)