Blumen am Rande des Platzes, an dem die Geiselnahme stattfand.

Sydney/Basel – "Der Moment, der uns für immer verändert hat" – so lautete die Schlagzeile der australischen Boulevardzeitung "Daily Telegraph". Das war kaum zwei Stunden nach Beginn der Geiselnahme in einem Café in Sydney, die mit drei Toten – darunter der Geiselnehmer – blutig endete.

Die Forderungen des als Haupttäter identifizierten Mannes, mit Premier Tony Abbott zu sprechen, und eine Flagge der Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) überreicht zu bekommen, waren noch kaum bekannt. Die Erstürmung des Cafés durch die Polizei lagen noch mehr als zwölf Stunden in der Zukunft.

Doch der Titel und der Zeitpunkt seines Erscheinens könnten kaum symbolischer sein: Obwohl noch nichts über die Hintergründe bekannt war, rief das Blatt eine Zeitenwende aus. Die Schlagzeile ist ein Beispiel für die emotionsgetriebene Irrationalität der Terrordebatte in Australien. Und sie steht auch für die Aggressivität einer Mehrheit der Medien.

Sydney gedenkt der Opfer
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Später wurde bekannt, dass es sich beim Geiselnehmer um einen im Iran geborenen selbsternannter "Geistlichen und Friedensaktivisten" handelte, der der Polizei schon lange bekannt war: etwa wegen beleidigender Briefe an Familien gefallener Soldaten – aber auch wegen Vorwürfen, er habe 2002 als "Wunderheiler" mehrere Frauen sexuell angegriffen und sei zudem am Mord an seiner Exfrau beteiligt gewesen. Eher ein Einzeltäter als ein gut vernetzter Extremist in Diensten international orientierter Terroristen, hieß es.

Verschärfte Stimmung

Die Stimmung im Land hat die Tat wohl dennoch weiter verschärft. Schon in den Monaten zuvor sahen sich Australiens Muslime mit Hetze in den Medien konfrontiert. Das Land, das bisher auf bemerkenswerte Harmonie unter den Ethnien stolz sein konnte, hört seit Wochen Meldungen von muslimischen Frauen, denen auf der Straße der Schleier vom Kopf gerissen wird, und von Angriffen auf im Land geborene Muslime, die angespuckt und aufgefordert werden, "dahin zurückzugehen, wo du herkommst".

Am Montag versuchten Australier auch ein anderes Gesicht zu zeigen: Unter dem Twitter-Hashtag #illridewithyou boten mehrere Zehntausend Australier Muslimen aus ihrer Nachbarschaft an, sie beim Heimweg in öffentlichen Verkehrsmitteln vor Angriffen zu schützen.

"Potenzielle Attentäter"

Doch trotz solcher Gesten: Der "Telegraph" ist nur eines von vielen Medien, die zuletzt die Diskussion um die durchaus ernste Terrorgefahr eskalieren ließen. Die Berichte und Kommentare sind oft mit rassistischen Untertönen gefärbt. Statt Analyse und rationaler Debatte beherrschen Emotionen die Zeilen. Zugleich führt die Regierung seit Monaten einen öffentlichkeitswirksamen Kampf gegen "potenzielle Attentäter" unter Australiens Muslimen.

Im September stürmten 800 Sondereinsatzkräfte Häuser in Sydney und Brisbane. 15 Menschen wurden festgenommen. Im Gegensatz zu ähnlichen Einsätzen wurden die Medien nicht ausgeschlossen, sondern eingeladen. Journalisten twitterten die Verhaftungen rascher, als die Polizei selbst informierte. Doch der Ertrag war enttäuschend: Von den Festgenommenen sind heute noch zwei in Haft. Doch der Schaden war angerichtet. In den Straßen herrschte Unsicherheit.

Zugleich hatte die Regierung die Terrorwarnstufe erhöht und die Beschneidung von Bürgerrechten geplant. Kein Land der Welt hat jüngst derart einschneidende Antiterrorgesetze verabschiedet: Im Oktober passierte das Parlament etwa eine Vorlage, die es Geheimdiensten erlauben wird, nicht nur jeden Computer im Land zu überwachen, sondern diese auch für eigene Aktivitäten einzusetzen. Das soll geheim bleiben – für immer: Journalisten, die über solche Operationen auch nur im Nachhinein "leichtsinnig" berichten, drohen ebenso wie Whistleblowern Haftstrafen.

Gesetzesverschärfungen

Im November verabschiedete das Parlament zudem Gesetze, gemäß denen Australier sich rechtfertigen müssen, die in sogenannte "deklarierte Gebiete" reisen – Irak oder Syrien etwa. Rückkehrer sehen sich mit einer großzügigen Interpretation des Begriffs "Terror" konfrontiert. Wer auch nur des Terrors verdächtigt wird, dem droht künftig "präventive Internierung" auf unbestimmte Zeit.

Nach dem Vorfall in Sydney ist das Durchwinken weiterer weitreichender Gesetze, etwa zur zweijährigen Vorratsdatenspeicherung, fast garantiert. Kein Politiker wird sich erlauben, angesichts der schwarzen Flagge im Stadtzentrum noch darauf zu pochen, man solle ungestört von Spionen Online-Banking betreiben können.

Zyniker sagen, Abbott dürfte von der dramatischen Situation auch persönlich profitieren. Seine Beliebtheitswerte waren zuletzt wegen seines als sozial ungerecht kritisierten Budgets gesunken. (Urs Wälterlin, DER STANDARD, 16.12.2014)

Dieses Video vom November 2014 zeigt den Geiselnehmer, der auf der Straße demonstrierte.
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