STANDARD: Ist die Geschichte von Juden und Jüdinnen vor den 1930er-Jahren noch zu wenig präsent?
Martha Keil: Das könnte man sagen. Das ist gut am Schulunterricht zu erkennen: Da gibt es die Israeliten, die mit Moses durch die Wüste ziehen, und dann gibt es bis zum Holocaust nichts. Das war eine Motivation, das Institut zu gründen. Als es 1988 eröffnet wurde, gab es zwar zeitgeschichtliche Forschung. Aber zu den jüdischen Quellen und über Juden und Jüdinnen als Akteure seit der jüdischen Besiedelung Österreichs im Mittelalter gab es keinerlei Aufarbeitung. Es war an der Zeit, sich den Raum zu nehmen, um über diese sehr wichtige Minderheitengeschichte zu forschen, die eben nicht nur eine Vorgeschichte zum Holocaust ist.
STANDARD: Dass über einige Jahrhunderte über jüdisches Leben in Österreich wenig bekannt ist, liegt bestimmt auch am Ansiedlungsverbot. Wie kam es zu diesem?
Keil: Indem die bereits hier lebende jüdische Bevölkerung vertrieben oder auch ermordet wurde. 1421 gab es in Niederösterreich eine Vertreibung von 800 und eine Verbrennung in Wien von 210 Menschen im Zuge der sogenannten "Wiener Gesera", die selbst für das 15. Jahrhundert grausam und auch absolut illegal war. Daraufhin wurde ein "ewiges" Ansiedlungsverbot für Juden ausgesprochen. Zwar wurde es durch das Toleranzpatent aufgeweicht, mit dem Josef II. 1782 eine Ansiedlung einzelner Juden erlaubte, aber keine Gemeindegründung. Einzelne durften sich auch nur unter bestimmten Umständen ansiedeln, etwa wenn sie einen Handwerksbetrieb oder eine Fabrik gründeten. Erst die Revolution 1848 ermöglichte Juden und Jüdinnen einen freien Zuzug.
STANDARD: Auch an den Universitäten gab es lange vor dem 20. Jahrhundert Antisemitismus. 2015 feiert die Universität Wien ihr 650-jähriges Jubiläum, wird diesem Teil ihrer Geschichte genügend gedacht?
Keil: Mittlerweile wurde dazu einiges publiziert. Es gibt auch ein Gedenkbuch über die vertriebenen und ermordeten Wissenschafterinnen und Wissenschafter. Es passiert einiges. Das ist auch nötig, wenn man daran denkt, dass die Neue Theologische Fakultät in der Wiener Bäckerstraße mit den Steinen der 1421 abgerissenen Synagoge erbaut wurde. Das wurde in den Universitätsakten auch offen thematisiert: "Die Synagoge des alten Gesetzes wurde auf wunderbare Weise in eine Schule der Tugenden des neuen Gesetzes umgewandelt." Einige Gründungsväter der Universität Wien waren offen judenfeindlich. Nichtsdestotrotz gab es in den 1450er- und 60er-Jahren einen Dekan jüdischer Herkunft, Paulus von Melk. Er wurde vermutlich, wie viele andere während der Gesera, zwangsgetauft.
STANDARD: Mit diesen Zwangstaufen sollte die jüdische Herkunft ausgelöscht werden?
Keil: An seinem Beispiel zeigt sich deutlich, dass mit der Zwangstaufe die Vorurteile wegfielen. Kaum war er Christ, wurde bis auf seinen Immatrikulationseintrag nicht mehr erwähnt, dass er ein konvertierter Jude war. Darin liegt ein wichtiger Unterschied zur Nazizeit: Der Taufschein war die Befreiung von der Unterdrückung, zumindest in Österreich. In Spanien waren hingegen die Conversos über Generationen unter Verdacht.
STANDARD: Kann sich die Forschung ausreichend auf Dokumente stützen oder ist einiges verschwunden?
Keil: Die Nazis waren gründlich und haben alles dokumentiert. Trotzdem war offenbar nach 1945 nicht immer die Zeit reif, sich mit diesen Dokumenten auseinanderzusetzen: Wenn wir uns anschauen, wonach vor zwanzig Jahren nicht gefragt, was nicht gesagt oder auch nicht gehört wurde. Man hat die schrecklichen Leiden in KZs erforscht, aber die Zwangsprostitution in KZs ist erst vor einigen Jahren rausgekommen. Das war zum Beispiel ein enormes Tabu.
STANDARD: Auch über die Zwangsumsiedlungen, die Sie im Rahmen eines "Sparkling Science"-Projektes mit Jugendlichen ab Jänner erforschen, weiß man noch wenig.
Keil: Ja, auf diese Zwangsumsiedlungen wurde bisher noch kein Augenmerk gelegt. Auch hier gibt es eine gute Datenlage. Die Sammelwohnungsbetreuung hatte bereits im Oktober 1938 die Stadt Wien übernommen: Die Einziehung der geraubten Wohnungen, die Umverteilung an andere Leute - das haben wir alles im Stadt- und Landesarchiv. Es ist alles da - kartonweise! Es ist auch Politik, zu behaupten, dass nichts mehr da ist. "Sie wollen etwas zurück? Oje, da können wir leider gar nichts mehr nachvollziehen." Das ist meistens nicht wahr.
STANDARD: Wann begann die Organisation von Sammelwohnungen?
Keil: Gleich nach dem "Anschluss" wurden die ersten Wohnungen geraubt. Dann begannen die erst noch "wilden" Delogierungen, die schon im Mai 1939 offiziell geregelt wurden: Der Kündigungsschutz für jüdische Mieterinnen und Mieter wurde aufgehoben, und ab Oktober 1938 ging alles über das Wohnungsamt, das die nunmehr leeren Wohnungen in Wien verwaltete. Teilweise gingen die Menschen "freiwillig" aus den Bundesländern nach Wien, weil klar war, dass sie hier nicht mehr leben konnten. Eine Ausreise konnte nur von Wien aus organisiert werden. Das Wohnungsamt hat ihnen die leeren Wohnungen zugeteilt.
STANDARD: Wie ging das Wohnungsamt dabei vor?
Keil: Das müssen wir jetzt erforschen. Es war teilweise völlig willkürlich. Es kamen wildfremde Menschen in eine gemeinsame Wohnung oder sehr viele in äußerst kleine Wohnungen. Es bildete sich durch die Sammelwohnungen zwar kein Ghetto wie zum Beispiel in Warschau, weil es keinen geschlossenen Bereich gab. Doch es zeigt sich bereits jetzt im zweiten, im neunten und im zwanzigsten Bezirk in Wien eine auffällige Häufung von Sammelwohnungen. Aber auch in meinem Bezirk, in Währing, hat es so etwas gegeben. Das ist alles sehr gut dokumentiert, es hat sich nur keiner angesehen.
STANDARD: Warum?
Keil: Ich denke, weil es buchstäblich den Nachbarn betroffen hat. Zwar nicht so auffällig wie ein ganzes Judenhaus, wie es das in Deutschland gab. Wir werden im Zuge des Projektes eine Landkarte erstellen, um zu zeigen, wo diese Sammelwohnungen konzentriert angelegt wurden. Durch diese Sammelwohnungen waren die Deportationen leichter durchzuführen. Wir sehen an den massenhaften Abmeldungen von einer einzigen Wohnung, dass die Menschen aus einer Wohnung deportiert wurden und der nächste Schub reinkam. Die letzte Adresse blieb im Meldeschein stehen.
STANDARD: Diese Sammelwohnungen sind also ein wichtiger Ankerpunkt?
Keil: Ja, wir haben einerseits mit Häuserlisten oder Umsiedlungszuteilungen quantitative Quellen. Und dann haben wir bereits und finden hoffentlich noch weitere Schilderungen, wie es den Menschen in diesen Wohnungen ging. Zum Beispiel durch Briefe, die aus diesen Wohnungen an Verwandte, die schon im Ausland waren, verschickt wurden.
STANDARD: Was machen die Schulklassen genau?
Keil: Zuerst bekommen sie von uns das Rüstzeug, diese Quellen zu verstehen. Und sie sollen sich überlegen was, "zu Hause sein" eigentlich ausmacht. Was bedeutet Wohnen für die Identität? Jeder Jugendliche will sein Zimmer haben, seine Poster darin aufhängen. Was macht es mit einem, wenn man das hat und wenn man es verliert? Meines Erachtens muss man diese autobiografischen Quellen mit einem empathischen Zugang lesen. Die Schülerinnen und Schüler sollen auch ein gewisses Misstrauen gegenüber den Massendaten entwickeln - da stehen Menschen dahinter, und das muss man sich vorstellen.
STANDARD: Wurde die Forschung über die Sammelwohnungen deshalb lange nicht durchgeführt, weil es angesichts des Grauens in KZs und dem Massenmord nicht dringlich erschien?
Keil: Im Zuge von Deportationen in KZs erscheint eine Sammelwohnung als das kleinste Übel. Aber trotzdem: Die Zwangsumsiedlung war ein großer persönlicher Einschnitt und Bruch. Und die Schauplätze liegen mitten in der Stadt, sie sind also ein Teil der Wiener Stadtgeschichte. Und jeder hat es mitgekriegt, wenn dauernd neue Leute zuzogen. Das musste man bemerken. (Beate Hausbichler, DER STANDARD, 17.12.2014)