Das im Artemis-Tempel entdeckte Statuetten-Fragment; zu sehen ist die Vorder- und Rückseite.

Illustration: ÖAI / Isabella Benda-Weber; Foto: Niki Gail

Die Wissenschafter glauben, dass die geflügelte Figur ursprünglich in jeder Hand ein wildes Tier hielt.

Wien/Ephesos - Österreichische Forscher haben im Tempel der Artemis in Ephesos (Türkei) in einer archaischen Bodenschicht aus dem frühen 6. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung das Fragment einer Darstellung der "Herrin der Tiere" entdeckt, die mit der Namensgeberin des Heiligtums gleichgesetzt werden kann. Bei der nur 3,6 Zentimeter hohen Figur handle es sich um einen "spektakulären Fund", so das Österreichische Archäologische Institut (ÖAI).

Im Rahmen der diesjährigen Grabungskampagne im August und September nahmen die Archäologen und der Leitung des ÖAI nach 20-jähriger Unterbrechung wieder den weltberühmten Tempel unter die Lupe. Der Hintergrund für die Wiederaufnahme der Forschungen im sogenannten Artemision sei, dass es dort noch viele ungeklärte Fragestellungen zu klären gibt, "denen wir nun mit modernen Methoden interdisziplinär nachgehen möchten", wie die Leiterin der Ephesos-Grabung und Direktorin des ÖAI, Sabine Ladstätter, erklärte.

In einer Schicht, die beim Bau des ersten großen Marmortempels aufgeschüttet wurde, kam die Figur, die den Oberkörper und den Kopf einer weiblichen Figur zeigt, zum Vorschein. Der sogenannte "Kroisos-Tempel" war ein Vorgängerbau des späteren Tempels, der zu den Sieben Weltwundern der Antike zählte.

"Herrin der Tiere" aus Flusspferdzahn

Die Statuette wurde aus dem Zahn eines Flusspferdes geschnitzt, einem Material, das in griechischen Heiligtümern damals selten war. Die Figur lässt die Merkmale des sogenannten dädalischen Stils, der sich von der Insel Kreta ausgehend um die Mitte des 7. Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung an der Küste der heutigen Westtürkei verbreitete, erkennen.

Sie besitzt zwei Ansichtsseiten und trug Flügel, was das Fragment als göttliches Wesen - genannt "Potnia theron" oder "Herrin der Tiere" - kennzeichne. Funde von anderen Grabungsstätten lassen darauf schließen, dass die Figur ursprünglich in jeder Hand ein wildes Tier hielt. Dadurch komme ihre Macht über die Natur zum Ausdruck.

Der Fund sei bemerkenswert, da es sich hier überhaupt um die erste "Potnia theron-Statuette" aus dem Heiligtum handle, so Ladstätter. "Das gibt uns eine Idee, wie sich die Menschen des siebenten und sechsten Jahrhunderts vor unserer Zeitrechnung die ephesische Artemis vorgestellt haben." Das bekannte, vielbrüstige Kultbild der Artemis aus Ephesos datiere nämlich erst aus hellenistischer Zeit. Ladstätter: "Das heißt, wir wissen nicht, wie die Göttin vor dem zweiten Jahrhundert ausgesehen hat." Mit diesem kleinen Stück habe man jetzt ein "sehr gut passendes Puzzlestein" im Rätsel um das Aussehen der Frühform gefunden.

Die österreichischen Grabungen in Ephesos finden seit 1895 statt. An dem archäologischen Großprojekt beteiligen sich mittlerweile alljährlich um die 250 Wissenschafter aus bis zu 20 Ländern. (APA/red, derStandard.at, 17.12.2014)