STANDARD: Sie sehen eine "tiefe Umdeutung" des Schutzbegriffes im 20. Jahrhundert. Wie hätte man ihn vor 100 Jahren verstanden?

Osterhammel: Ich glaube nicht, dass der Schutzbegriff eine so kontinuierliche Rolle gespielt hat. Was aber auffällt, ist, dass seit den 90er-Jahren plötzlich wieder von Protektoraten die Rede ist. Das UN-Protektorat im Kosovo, ziemlich gleichzeitig die UN-Übergangsverwaltung in Osttimor, die auch in Medien als Protektorat bezeichnet wurde. Da merkt der Historiker natürlich auf, weil er weiß, dass Protektorate in der Zeit des Imperialismus eine Art "Kolonialismus light" waren. Eine Form, die man eigentlich für überlebt gehalten hatte.

STANDARD: In gewisser Weise eine Rückkehr?

Osterhammel: Früher ging es um eine Art indirekte Form der Kontrolle, heute um multilaterale Schutzprotektorate. Aber es gibt eine historische Brücke - die Idee der "trusteeship", die nach dem Ersten Weltkrieg im Völkerbund entwickelt wurde. Diese Idee tauchte in den 90er-Jahren auf, als nach dem Ende des Kalten Krieges neue Formen von humanitären Interventionen möglich wurden.

STANDARD: In aktuellen Konflikten - Beispiel Ukraine - wird mit der Behauptung argumentiert, man müsse ethnisch zugehörige Volksgruppen schützen.

Osterhammel: Das hat uns im westlichen Europa überrascht, dass ethnische Begründung für Politik in Europa wieder akzeptiert wurde. Da waren wir in gewisser Weise schizophren, weil wir uns ja im Rest der Welt durchaus daran gewöhnt hatten, ethnischen Argumentationen zu folgen. Russland argumentiert nun geradezu völkisch. Die Frage ist aber, wieweit man sich solche Argumentationsmuster aufdrängen lässt.

STANDARD: Steht das in der Tradition einer Schutzbehauptung, die in Wahrheit ein Streben nach Einfluss ist?

Osterhammel: Klassische Imperien haben sehr selten mit dem Schutz eigener Minderheiten argumentiert. Im Gegenteil: Die Geschichte ist voller Episoden, wo man die Kontrolle verliert und Unabhängigkeit entsteht. Ich glaube also, dass das nicht für die Imperialgeschichte charakteristisch ist. Eher für die spezifische Geschichte Osteuropas, wo oft Grenzen neu gezogen wurden und so neue Minderheiten entstanden. Ich glaube nicht, dass das "typisch imperialistisch" ist, wie man oft liest.

STANDARD: Internationalen Einsätzen unter der UN-"Responsibility to Protect" werden teils neokolonialistische Hintergründe vorgeworfen. Wie sehen Sie die historischen Traditionen, die dahinterstehen?

Osterhammel: Das ist ein Vorwurf, den nicht die erheben, an die man primär denken sollte - nämlich die, die geschützt werden sollen. Es sind vor allem große Drittstaaten des ehemaligen globalen Südens. Es war ein radikaler Schritt vom alten, auf Neutralität verpflichteten Peacekeeping. Nun nimmt man einen Regimewechsel in Kauf. In Libyen wurde er bewusst herbeigeführt.

STANDARD: Und dann?

Osterhammel: Der alte Kolonialismus hätte das Gebiet unterworfen und dauerhaft ausgebeutet. Das passiert nicht. Aber was passiert, ist ziemlich unklar. Längere Besetzung, wie in Afghanistan, quasi eine Art neue "trusteeship"? Nicht einmal das? Man stürzt ein Regime und zieht sich zurück, wie etwa in Libyen? Alles schwierige und unappetitliche Alternativen.

STANDARD: Was wären Positivbeispiele?

Osterhammel: Osttimor scheint relativ erfolgreich zu einer Stabilisierung gefunden zu haben. In Kambodscha haben die Roten Khmer einen dramatischen Fall des medial oft zitierten "Krieges einer Regierung gegen das eigene Volk" geführt, mit wahrscheinlich zwei Millionen Toten. Dann griff Ende 1978 das Nachbarland Vietnam ein, beendete in kurzer Zeit Regime und Völkermord. Eine erfolgreiche humanitäre Intervention, wenn man so will. Aber: Ohne UN-Mandat, vor dem Hintergrund des Kalten Krieges. Eine "illegale Intervention".

STANDARD: Wie sind neue Debatten über Schutz im Inneren einzuordnen?

Osterhammel: Natürlich hat sich seit dem 11. September 2001 der Schutz des Staates im konkreten Sicherheitssinn verstärkt. Es geht um das, was Juristen Güterabwägung nennen. Man fühlt sich nicht wohl, wenn in jeder Ecke Überwachungskameras hängen. Auf der anderen Seite erwartet man, dass der Staat Terrorismus vereitelt. Man ist beruhigt, wenn man noch ein funktionierendes Rechtssystem zu erkennen glaubt. Ich meine damit, dass Exzesse verselbstständigten Schutzes juristisch verhindert werden. Das funktioniert nicht immer. Bei den USA hat man etwa den Eindruck, dass gelegentlich die Grenzen überschritten werden.(Manuel Escher, DER STANDARD, 18.12.2014)