Heutige Videospieel ermöglichen mittlerweile eine zwar fiktive, aber ungeheuer naturalistische Wiedergabe historischer Ereignisse. Auf der Strecke zum Unmut mancher Nostalgiker bleiben die historischen Mythen.

Foto: Assassin's Creed Unity

Es ist eines der populärsten Videospiele und dürfte sich unter manchem Weihnachtsbaum finden. Die neuste Ausgabe von "Assassin’s Creed Unity" (ACU) widmet sich nach den Kreuzzügen und anderen blutigen Epochen der französischen Revolution. Das neue Opus des Pariser Software-Herstellers Ubisoft genügt höchsten graphischen Ansprüchen; sehr lebensecht werden die einzelnen Stationen und Ereignisse im Paris von 1789 und den Folgejahren wiedergegeben.

Haar in der Suppe

Doch wird "ACU" auch dem historischen Anspruch gerecht? Die Zeitung Le Monde nahm das Fantasy-Spiel kritisch unter die Lupe, suchte und fand sieben faktuelle Irrtümer. Das Bastille-Gefängnis, dessen Schleifung das Fanal zur Revolution gab, steht in dem Adventure-Game zum Beispiel noch 1791. Im gleichen Jahr singen in einer "ACU"-Szene Revolutionärsgarden die Marseillaise - obwohl diese ihrem Schöpfer Rouget de Lisle erst 1792 aus der Feder geflossen war.

Die Recherche des Pariser Vordenkerblattes wirkt etwas bemüht, als suchte sie bewusst ein Haar in der virtuellen Suppe. Es stimmt zwar, dass die rotweißblaue Trikolore erst 1794 zur französischen Nationalflagge wurde; die Kombination der drei Farben wurde aber schon vorher von den Revolutionären benützt. Einer der Produzenten des Spiels, Antoine Vimal du Monteil, stellte klar, ACU sei ein "Videospiele für ein breites Publikum, keine Geschichtslektion".

Geschichtsnah

Ubisoft hatte für die Entwicklung immerhin fünfzehn Historiker beigezogen. Die revolutionären Schauplätze werden bis in die Details und möglichst lebensnah wiedergegeben. Das Dekor bildet nicht etwa das von breiten Boulevards gesäumte Paris, das wir heute kennen, sondern ein mittelalterlich verschachtelter Stadtkern voller Armut und Misere, wie ihn Patrick Süskind in seinem Roman "Das Parfüm" beschrieben hat.

Umso plausibler erscheint, wie aus diesen elenden Gassen ein so massiver Volksaufstand entstehen konnte. Und wie ein junger Pariser – die Videohauptfigur Arno – in den Volksaufstand gezogen wird, nachdem sein Vater am Hof von Versailles umgebracht worden war. Das Game selbst ist dann vorrangig ein Hauen und Stechen, Meucheln und Säbeln.

Ungeliebt ungeschönt

Und dieses virtuelle, zugleich hyperreale 3D-Bild der Revolution passt nicht allen in den Kram. Der ehemalige Präsidentschaftskandidat der Linken, Jean-Luc Mélenchon, sieht darin eine "Propaganda gegen das Volk aus Barbaren, Wilden und Blutrünstigen". Während die Königsgattin Marie-Antoinette "als armes reiches Mädchen gefeiert" werde, stehe Revolutionsführer Robespierre als "hässliches Monster" da.

Ubisoft hatte bei der Rekonstruktion der historischen Figuren sogar Gesichtsphysiologen beigezogen. Ein Teil von ihnen will schon vor Jahren eruiert haben, dass Robespierres Konterfei von Pockennarben und - auf dem Höhepunkt der Schreckensherrschaft – einer chronischen Erschöpfung gezeichnet gewesen sei. Dass ein Videogame sogar solche historischen Annahmen berücksichtigt, darf ihm eher angerechnet werden.

Propaganda gegen das Volk

Mélenchon, aber auch andere französische Politiker werfen den ACU-Machern hingegen vor, die Revolution als Ganzes "anzuschwärzen". Wahrscheinlicher ist, dass die Gewaltszenen mit dem blutriechenden Pöbel, den aufgescheuchten Aristokraten und guillotinierenden Dragonern eher den kommerziellen Vorgaben eines Action-Videos folgten. In Sachen Revolutionskulisse nimmt sich das "Mörder-Credo" ("Assassin’s Creed") letztlich weniger Freiheiten heraus als klassische Autoren wie Victor Hugo oder Regisseure wie Philippe de Broca vor ihm.

Heutige Videospiele ermöglichen mittlerweile eine zwar fiktive, aber ungeheuer naturalistische Wiedergabe historischer Ereignisse, die damit fast hautnah erlebbar werden. Auf der Strecke bleiben die historischen Mythen. Und das ist es, was Mélenchon wohl am meisten stört. (Stefan Brändle aus Paris, derStandard.at, 19.12.2014)