Maria (Anna Laudere) schwebt in Neumeiers "Weihnachtsoratorium I-VI" zwischen Passion und Passivität, Joseph (Carsten Jung) kapituliert vor der Übermacht des Glaubens.

Foto: Holger Badekow Colonnaden , Hamburg

Wien - Eigentlich gehört das Geschichtenerzählen dorthin, wo die Sprache wohnt. Aber es gibt auch bildliche, klangliche und gestische Formen des Erzählens, die sich in den Rissen und Metaebenen des Literarischen verorten. Eine davon ist das narrative Ballett, wie es der aus den USA stammende Hamburger Choreograf John Neumeier in seinem Weihnachtsoratorium I-VI umsetzt, das derzeit im Theater an der Wien zu sehen ist.

Neumeier (72) leitet das Hamburg Ballett seit 41 Jahren. In den 1960er-Jahren gehörte er zu John Crankos Stuttgarter Ballett, aus dem auch Größen wie Jirí Kylián, Marcia Haydée und William Forsythe hervorgingen. In der wohlhabenden Hansestadt konnte der passionierte Bewunderer Vaslav Nijinskys eine Enklave des neoklassischen Handlungsballetts einrichten und dieses vor den "Unbilden" erst des Tanztheaters und später der postmodernen Choreografie bewahren.

Das Weihnachtsoratorium I-VI (2013) ist ein Paradebeispiel für das in die Gegenwart transferierte Handlungsballett, und Neumeier gehört - wie Heinz Spoerli oder Martin Schläpfer - zu den Referenzfiguren dieses Genres. Das dreistündige Stück ist nicht bloß eine erweiterte Fassung des Weihnachtsoratoriums I-III, das 2007 im Theater an der Wien zu sehen war. Und es ist nicht einfach eine vertanzte Bühnenvisualisierung von Johann Sebastian Bachs Weihnachtsoratorium von 1734. Denn John Neumeier zieht seine eigenen Schlüsse aus der Musik und dem Text des Barockwerks.

In der Wiener Fassung sind das Wiener Kammerorchester und der Arnold Schoenberg Chor unter der Leitung von Erwin Ortner mit Lenneke Ruiten als Sopran, Ann Beth-Solvang als Alt, dem Tenor Andrew Tortise und dem Bass André Schuen zu genießen. Die vier Sänger werden auch auf der Bühne sichtbar und verbinden so die musikalische Ebene im Orchestergraben mit dem szenischen Geschehen.

Neumeiers zentrale Figuren sind Maria (Anna Laudere) und Josef (Carsten Jung), vor allem aber auch "ein Mann", der das gesamte Stück hindurch präsent bleibt. Vom Choreografen als "einer von uns" und zugleich "Spiegelung zu Christus" gesetzt, ist er Narr und Genarrter zugleich. Wunderbar getanzt von Lloyd Riggins, wirkt diese Figur am stärksten, wenn sie bedrängt wird oder abseits neben einem Topf-Weihnachtsbäumchen vor sich hinsinniert. Zum Genarrten wird er, sobald er eine Pappkrone aufsetzt und beginnt, sich in Szene zu setzen.

Denn da gibt es einen, der ihm zeigt, was ein Herodes ist. Dieser "König" (Dario Franconi) nimmt dem Narren die Krone, tritt die Topftanne beiseite und beginnt mit seinem Verfolgungswerk. Hier hätte Neumeier das aktuelle Flüchtlingselend thematisieren können. Doch er zählt stattdessen auf eine melancholische Darstellung des Migrantischen mit schwarz bemäntelten Figuren, die makellose weiße Koffer tragen.

Passion und Passivität

So widerspiegelt er die Distanz der Europäer als einen Zustand passiver Ästhetisierung des Empathischen - und steigert das mit seiner Interpretation von Maria und Josef noch. Maria drückt sich als "die Mutter" durchgehend ein gebügeltes und gefaltetes weißes Hemd auf den Leib, schwebt zwischen Passion und Passivität. Das Kind der unberührt Geschwängerten bleibt abwesend, und Josef, von Neumeier als "bedingungslos Liebender" gedacht, scheint als personifizierte Kapitulation vor der Übermacht des Glaubens auf.

Um diese Figuren betreiben große Gruppen, dem Gehalt von Bachs Oratorium entsprechend, viel Aufwand: weiß gewandete Engel, rot, blau, grün gekleidete Gestalten und die erwähnten Kofferträger. Als neckisches Aperçu sind die drei Weisen als sexy Burschen (Balthasar mit dunkler Sonnenbrille) dargestellt. Die Bühne wechselt zwischen elysischem White Cube und orkushafter Black Box. Darin schwebt Neumeiers Interpretation der Bach'schen Religionsapotheose zwischen Pathos und Gloria. Das Premierenpublikum quittierte das zum Teil mit Standing Ovations. (Helmut Ploebst, DER STANDARD, 19.12.2014)