Der Politik- und Unternehmensberater John Loulis sagt Neuwahlen und einen Sieg der Linken in Griechenland voraus. Markus Bernath sprach mit ihm in Athen.
STANDARD: Die griechische Regierungskoalition hat in der ersten Runde der Präsidentenwahl im Parlament noch weniger Stimmen gesammelt als ohnehin erwartet. Wohin geht nun die Reise?
Loulis: Die zwei Regierungsparteien – Nea Dimokratia und Pasok – werden diese Wahl verlieren. Es ist für sie noch schwieriger geworden, als es vorher schon aussah, die 180 Stimmen im Parlament zu finden, die in der dritten Runde der Präsidentenwahl notwendig wären. Vorgezogene Neuwahlen sind ein Szenario, das jetzt sehr wahrscheinlich ist. Wenn die Abgeordneten nicht in der Lage sind, ein neues Staatsoberhaupt zu wählen, ist der weitere Weg klar: Das Parlament wird aufgelöst. So einfach ist das. Und das linke Parteienbündnis Syriza führt weiter in allen Umfragen. Im Grunde wird es eine Wahl zwischen Wut und Furcht sein.
Bei der letzten Parlamentswahl im Juni 2012 hat die Furcht vor einem Hinauswurf aus der Eurozone gewonnen. Die Furcht hat auch gewonnen, weil Alexis Tsipras, der Chef von Syriza, die Wahl damals verlieren wollte. Er wollte sie knapp verlieren, und so kam es auch. Tsipras gab sich damals den einen Tag beruhigend und drohte am nächsten Tag wieder Griechenlands Kreditgebern.
Jetzt aber will er die Wahl gewinnen. Ich glaube, dieses Mal wird die Wut über den Sparkurs dominieren. Tsipras wird vielleicht keine absolute Mehrheit erhalten, was gut für ihn ist. Er braucht Koalitionspartner, um den radikaleren linken Teil seiner Partei unter Kontrolle zu halten. Das ist wichtig für ihn. Wenn Tsipras Partner in seine Regierung holt, kann er seiner Partei immer sagen: Schaut, wir können unser Programm nicht ganz umsetzen, wir müssen Kompromisse eingehen.
STANDARD: Könnte dieser Partner die neue liberale Partei Potami (Der Fluss) sein, die bei der Europawahl gut abgeschnitten hat?
Loulis: Absolut. Auch wenn die Potami-Leute im Moment so tun, als ob sie nicht mit Syriza zusammenarbeiten wollen. Tsipras kann vielleicht sogar Panos Kammenos und dessen rechtspopulistische Partei Unabhängige Griechen gewinnen. Ihre Ansichten, wie man mit dem Schuldendienst fertig wird, decken sich.
In Griechenland ruft jede Opposition nach einem halben oder einem Jahr nach Neuwahlen. Das gehört hier zum Standard. Der heutige Regierungschef Antonis Samaras tat das mit Erfolg im Jahr 2011, vor ihm ist Georgis Papandreou so mit dem damaligen Premier Kostas Karamanlis verfahren. Jetzt aber haben wir eine Regierung, die kurz davor stand, eine Einigung mit der Troika zu erreichen, sie dann aber nicht abschloss. Das heißt, diese Regierung hat ihre Verantwortung nicht wahrgenommen. Eine seriöse Regierung würde so etwas nicht tun.
STANDARD: Sie würden die Schuld für das jetzige politische Dilemma nicht bei der Troika suchen? Deren Berechnungen für das Budget 2014 hatten sich als nicht ganz richtig erwiesen. Warum sollte die griechische Regierung nun die Kalkulationen der Kreditgeber für 2015 akzeptieren?
Loulis: Ich bin völlig überzeugt, dass die Kreditgeber recht haben. Die Art und Weise, wie die Regierung ihren Primärüberschuss berechnet, ist fragwürdig. Das Geld, das der Staat zum Beispiel Privatunternehmen schuldet, die Rückerstattung der Mehrwertsteuer, ist nicht im Haushalt enthalten. Der Beginn von Pensionszahlungen wird um ein oder zwei Jahre aufgeschoben. Mit solchen statistischen Tricks ist es leicht, einen Primärüberschuss zu erreichen. Die Troika wäre nicht so halsstarrig, wenn sie der griechischen Regierung trauen würde. Sie weiß, dass der Haushalt, der vorgelegt wurde, nicht glaubwürdig ist.
STANDARD: Dafür könnten die Troika und Europa nun eine Tsipras-Regierung bekommen. Besser?
Loulis: Was soll groß passieren? Syriza wird die Eurozone nicht in die Luft sprengen. Die Eurozone ist, anders als im Jahr 2010, sehr viel besser gewappnet. Schauen Sie sich noch einmal die Regierung Samaras an: Strukturreformen sind nicht gemacht worden. Das einheitliche Gehaltssystem für den öffentlichen Dienst ist nie gekommen. Eine ganze Reihe staatlicher Einrichtungen hätten geschlossen werden müssen. Auch diese Forderung der Kreditgeber hat die Regierung nicht erfüllt.
STANDARD: Sie erwarten wohl nicht, dass eine Syriza-Regierung diese Strukturreformen umsetzt.
Loulis: Selbstverständlich nicht. Unser politisches System in Griechenland ist krank. Aber die Leute wollen jetzt den Wechsel, auch wenn die Mehrheit Tsipras nicht wirklich traut. Sie sagen: Wir haben unsere Erfahrungen mit dieser Koalition gemacht, lasst uns etwas anderes ausprobieren. Gewinnt Tsipras die Wahl, hat er eine sehr wacklige Basis. Seine Popularität könnte sehr schnell zusammenbrechen.
STANDARD: Das heißt, Europa kann nichts von Tsipras erwarten, hat aber auch nichts von ihm zu befürchten?
Loulis: Europas Position in den Kreditverhandlungen mit Griechenland ist viel zu stark. Was sollen Tsipras und seine Partei denn tun? Sie werden mit den Kreditgebern reden. Tsipras wird sagen, was er will, und die Troika wird ihm antworten: "Nein. Das ist das Sparprogramm, das sind die Schritte, die wir mit Samaras hinter uns haben, und wir erwarten, dass Sie dem folgen. Es gibt einen Zeitplan für das Geld, das Sie erwarten, andernfalls müssen Sie es sich auf dem freien Markt besorgen." Aber wie wollen Sie Geld leihen, wenn die Aufschläge bei Anleihen jetzt schon bei neun Prozent liegen? Tsipras wird nicht das Risiko auf sich nehmen, Griechenland aus der Eurozone zu nehmen, denn das würde den Zusammenbruch der griechischen Wirtschaft bedeuten.
STANDARD: Tsipras sagt, er würde Griechenland "von den Märkten befreien" ...
Loulis: Das ist Rhetorik. Es gäbe einen Ansturm auf die Banken, die Rolläden würden bei den Finanzinstitutionen hinuntergehen. Tsipras wird das nicht riskieren. Es gibt eine kleine Gruppe von Leuten um ihn, die sehr vernünftig sind und sich der Schwierigkeiten bewusst sind – Yiannis Dragasakis, ein Ex-Kommunist, der wahrscheinlich Finanzminister wird, oder Nikos Pappas, der Leiter von Tsipras' politischem Büro und ein promovierter Volkswirt von der Universität von Glasgow.
Aber das ist nur der eine Zirkel in Syriza. Dann gibt es einen zweiten, in dem sich Gemäßigte tummeln, Leute, die ein bisschen dazwischen liegen, und dann die Träumer. Der dritte Kreis sind die Wähler: Einige sind Hardliner, die meisten sind es nicht; einige glauben an Syriza, die anderen nicht – sie wollen einfach die jetzige Regierung aus dem Amt wählen. Das ist alles eine sehr wacklige Konstruktion. (Markus Bernath, DER STANDARD, Langfassung, 20.12.2014)