Bereits im März 2014 hat die Bundesagentur für Gesundheit und Ernährungssicherheit (Ages) in Lebensmittelproben aus dem Kärntner Görtschitztal Überschreitungen des Grenzwerts einer der giftigsten Industriechemikalien, des Hexachlorbenzols (HCB), festgestellt. Diese Information gelangte jedoch nicht an die Öffentlichkeit. Erst im November 2014 wurde bekannt, dass HCB in Milch und Futter gefunden worden war.

In ersten Reaktionen erklärten Behördenvertreter, dass ihnen aufgrund der Amtsverschwiegenheit die Information der Öffentlichkeit versagt (gewesen) wäre. Selbst wenn diese Aussage verständlicher wird, wenn die möglichen disziplinarrechtlichen Konsequenzen bei einem Verstoß gegen die Amtsverschwiegenheit bedacht werden, so zeigt sie doch eine besorgniserregende Unkenntnis der Rechtslage und ein erhebliches Maß an behördlicher und politischer Verantwortungslosigkeit.

Ruhe und Ordnung

Denn zur Amtsverschwiegenheit sind staatliche Organe nach Artikel 20 unserer Verfassung nur verpflichtet, wenn dies "im Interesse der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ruhe, Ordnung und Sicherheit, der umfassenden Landesverteidigung, der auswärtigen Beziehungen, im wirtschaftlichen Interesse einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, zur Vorbereitung einer Entscheidung oder im überwiegenden Interesse der Parteien geboten ist". An welche dieser Gründe mag dabei wohl gedacht worden sein? Auch datenschutzrechtliche können es nicht gewesen sein, denn das Datenschutzgesetz erlaubt unter anderem die Verwendung von Daten im Interesse der Wahrung des Lebens und der Gesundheit.

Die Behörden wären im Gegenteil zur Information der Öffentlichkeit verpflichtet gewesen: So ist im Lebensmittelsicherheits- und Verbraucherschutzgesetz eine Pflicht des Bundesministers für Gesundheit zur Information der Öffentlichkeit festgeschrieben, wenn aufgrund eines Befundes oder Gutachtens der Ages oder einer Untersuchungsanstalt der Länder der begründete Verdacht besteht, dass Waren im Sinne dieses Gesetzes gesundheitsschädlich sind und eine größere Bevölkerungsgruppe deshalb gefährdet ist (Gemeingefährdung). Und nach dem Gesundheits- und Ernährungssicherheitsgesetz können Risikomanagementmaßnahmen getroffen werden, wenn ein Gesundheitsrisiko festgestellt wird, es jedoch noch wissenschaftliche Unsicherheiten gibt. All dies hätte schon im Frühjahr 2014 erfolgen können oder müssen.

Politik und Behörden wären aber darüber hinaus auch aus menschenrechtlicher Sicht zur umgehenden Information der Bevölkerung verpflichtet gewesen: Da Staaten auch zu präventiven Maßnahmen verpflichtet sind, um Verletzungen der Europäischen Menschenrechtskonvention hintanzuhalten, hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte mehrfach Staaten wegen mangelnder Schutzvorkehrungen verurteilt.

So etwa im Fall Guerra gegen Italien. Die Betroffenen lebten in der Nähe einer Chemiefabrik. Diese wurde nach EU-Kriterien als risikoreich eingestuft. Trotz Unfällen aufgrund von Arsenvergiftungen unterließen die Behörden adäquate Maßnahmen gegenüber dem Unternehmen sowie eine entsprechende Information und Warnung der Bevölkerung. Nach Meinung des Gerichtshofs umfasst das Recht auf Achtung des Privatlebens auch den Anspruch auf ein Lebensumfeld, das nicht gesundheitsgefährdend ist. Schwere Umweltverschmutzungen können, so der Gerichtshof, die Wohn- und Lebensqualität derart beeinträchtigen, dass dieses Recht verletzt wird. Der Staat wäre verpflichtet gewesen, die Bewohner der Region über die Risiken der Chemiefabrik zu informieren.

Im rumänischen Fall Tatar lebten die Betroffenen in der Nähe einer Goldmine, in der Natriumcyanid verwendet wurde. Nach einem Dammbruch gelangte der Giftstoff in die Umwelt. Der Gerichtshof hielt fest, dass ein Staat besondere Schutzmaßnahmen gegen Beeinträchtigungen der Umwelt und der Gesundheit treffen muss. Hier hätten die Behörden aber verabsäumt, die Risiken der Goldmine richtig einzuschätzen, die Öffentlichkeit über vorhandene Berichte und Analysen zu informieren und entsprechende Schutzmaßnahmen zu ergreifen. Auch wäre die Öffentlichkeit bei diesen Umweltfragen in den Entscheidungsprozess mit einzubeziehen gewesen.

Begründeter Verdacht

Hintergrundlose oder voreilige Panikmache kann auch bei Umwelt- und Gesundheitsgefährdungen schädlich oder zumindest unnötig sein, keine Frage. Steht aber der begründete Verdacht im Raum, dass die Gesundheit von Menschen gefährdet oder gar schon beeinträchtigt ist, dann dürfen politische und wirtschaftliche Interessen oder Ängste nicht dazu führen, dass der betroffenen Bevölkerung gegenüber Tatsachen verschwiegen oder die Situation verharmlost wird.

Die Menschen haben ein Recht auf Information, um selbstbestimmt entscheiden zu können, wie sie auf eine Gefahr reagieren. Zudem sind sie in Entscheidungsprozesse miteinzubeziehen, wie dies im HCB-Fall endlich zumindest ansatzweise geschieht. Vielleicht sollten Politik und Behörden diesbezüglich besser geschult und entsprechende verbindliche Kommunikationsszenarien entwickelt werden? (Hannes Tretter, DER STANDARD, 20.12.2014)