Am Rande der marokkanischen Provinzhauptstadt Nador treffen wir im Schatten eines belebten Marktes auf jenen Mann, der uns später auf den Flüchtlingsberg Gurugú führen wird. Es riecht nach Fisch und verbrannter Erde. Neben zu kleinen Türmen gestapelten Orangen liegen ausgeblutete Ziegenköpfe, die von Staub und Fliegen bedeckt sind. In der Enge der Menschenmenge steht Yusuf und reibt sich mit einer Hand den Arm, während er mit der anderen um Geld bettelt. Obwohl die Mittagssonne auf der Haut brennt, zittert er. Als wir ihn ansprechen, zieht er uns mit sich in einen abgelegeneren Teil des Marktes. Seine Augen sind blutunterlaufen, die Wangen eingefallen, seine Bewegungen jedoch entschlossen und kraftvoll. Diese Bestimmtheit findet sich auch in dem, was er sagt: "Ich habe Kinder. Ich spreche nicht mit Journalisten." Seine Sprache ist das "Pidgin-English", eine vereinfachte, nur schwer verständliche Form des Englischen, das neben dem Französischen die Amtssprache in Kamerun ist.
"Ich bringe euch zu meinem König", beschließt Yusuf, als wir hartnäckig bleiben. Denn auch Flüchtlinge haben Könige, und so gibt es wohl nirgendwo auf der Welt eine größere Ansammlung von Monarchen als in den Wäldern des Monte Gurugú.
Wir verlassen den Markt und gehen zügig durch die verwinkelten Straßen Nadors. Es ist hektisch und laut. An einer großen Straße bedeutet Yusuf uns, geradeaus weiter zu gehen. Er muss eine andere Route nehmen, um die Spitzel und Wachtposten der Polizei zu umgehen. "Die Stadt ist in meiner Hand", sagt er wie aus dem Nichts, rennt los und verschwindet hinter der nächsten Ecke.
Es geht steil hinauf; wir treffen auf Männer, die uns mit "Salem Aleikum" begrüßen, Frauen, die Wasser in die Gassen schütten, Kinder, die am Rand mit Ästen spielen und eine Horde Schafe, die mitten auf der Straße Position bezogen hat. Neben dem Weg verläuft ein ausgetrocknetes Flussbett, das mit Müll zugedeckt ist. Unter dem beißenden Geruch, der vom Müll ausgeht, mischt sich der Rauch der offenen Feuerstellen. Aus dem Nebel löst sich der Umriss eines alten Mannes, der mit einem Rechen den Müll über die hoch lodernden Flammen verteilt.
Bis wir die letzten Häuser hinter uns gelassen haben, halten wir uns noch zurück mit dem Fotografieren. Zu groß ist das Risiko, unnötige Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Erst auf einem Plateau wagen wir die ersten Aufnahmen, als Yusuf wieder auftaucht. Er hat uns beim Fotografieren beobachtet und will noch einmal genau wissen, wer wir sind und was wir wollen, bevor er uns zu den anderen Flüchtlingen mitnimmt.
Boozza-Town
Am ersten Posten sitzen junge Männer im Schatten eines Baumes, einer macht Kampfsportübungen. Ihnen zu Füßen liegen Melilla und das offene Meer. Während wir mit freundlicher Zurückhaltung begrüßt werden, beginnt Yusuf mit einem Mann einen Boxkampf. Schweiß liegt in der Luft, das Publikum johlt, und aus dem Staub und Dreck, der ihre Kleidung bedeckt, stechen die ausgefallenen, geschorenen und geflochtenen Frisuren der drahtigen Männer hervor. Lachend wird der Kampf beendet, und die Männer klopfen sich gegenseitig auf die Schulter. Es ist das erste Mal, das wir Yusuf entspannt erleben.
Mit einem vollen Wasserkanister in der Hand folgen wir einer Gruppe entlang von Felswänden in ein Lager, das aus einer Feuerstelle und einer kargen Unterkunft aus Blättern und Ästen besteht: Die Flüchtlinge nennen es "Boozza-Town". Schlafplätze gibt es nicht, auch Decken sind keine zu sehen. Wir nehmen darin Platz und warten darauf, dass der König eintrifft. Als er schließlich in Begleitung seines Generals kommt, unterscheidet ihn nichts von den anderen Männern, die im Schnitt nicht älter fünfundzwanzig Jahre alt sind. Frauen sehen wir keine. Der König spricht kein Englisch und bestimmt einen Übersetzer.
Wir übergeben ihm mehrere Tüten Reis, Zucker und Salz - Grundnahrungsmittel, die für die Flüchtlinge auf dem Berg nur schwer zu beschaffen sind. Der König gestattet uns, alles zu filmen und zu fotografieren. Die Männer zeigen uns daraufhin ihre Narben. "Über den Zaun zu klettern ist gefährlich. Die marokkanische Polizei wirft mit Steinen, während die spanische Guardia Civil von der anderen Seite mit Schlagstöcken auf deine Hände einschlägt. Du musst aufpassen, dass du nicht stürzt." In Absprache mit den anderen Oberhäuptern des Monte Gurugú - aus Mali, Nigeria oder dem Senegal - organisiert der König der Kameruner die Versuche, über den Zaun zu gelangen.
König zu sein ist hier jedoch nur eine Momentaufnahme. "Könige kommen und gehen", erklärt ein Mann. "Sie schaffen es über den Zaun oder werden von der Gruppe abgewählt." Als sich im Haar seines Generals ein kleiner Ast verfängt, entfernt ihn der König vorsichtig. "Ein König muss für Gerechtigkeit sorgen", sagt er.
Als wir unsere Polaroidkamera hervorholen, bricht Euphorie aus. Jeder will ein Foto von sich und den anderen haben. Viele Männer sind Väter, jeder von ihnen hat Familie und Freunde zurücklassen müssen und ringt damit, die Erinnerungen nicht zu stark werden zu lassen. Jedes Foto wird ihnen zu einem Souvenir von unschätzbarem Wert. Das kleine Lager schmiegt sich an eine Felswand, an der diejenigen, die es bereits über den Zaun geschafft haben, ihre gravierten Spuren hinterlassen haben. Nur wer mental und körperlich stark genug ist, hat die Reise bis hierher überlebt und hält das Leben auf dem Gurugú aus.
Yusuf zwängt sich in Sekundenschnelle in eine Felsspalte und fordert uns auf, ihn darin zu fotografieren. Es ist sein Versteck vor den Razzien der marokkanischen Polizei. "Wir stellen uns jeden Tag den Wecker auf halb fünf Uhr früh, um uns in den Bergen vor der Polizei zu verstecken." Die waghalsigen Klettereien auf den Monte Gurugú haben schon manche das Leben gekostet - wer erwischt wird, kommt ins Gefängnis nach Rabat oder wird in das Niemandsland jenseits der Grenze nach Algerien gebracht.
Es wird Zeit für uns, Boozza-Town zu verlassen. Auf unserem Rückweg begegnen wir einem jungen Mann, dessen Kleidung, obwohl schmutzig, dennoch die Ordentlichkeit eines Missionars aufweist. In seiner Hand befindet sich eine kleine Bibel. Als er uns bemerkt, hebt er kurz seinen Kopf und grüßt uns freundlich. Anschließen senkt er seinen Kopf und widmet sich den kaum lesbaren Worten seines Buches.
"Wenn du vor dem Zaun stehst, musst du dein gutes Herz hinter dem Rücken verstecken und dein Schlechtes hervorholen. Dann beginnst du wie wild zu klettern", erklärt einer derjenigen, die es über den Zaun geschafft haben. Doch nicht nur über den Zaun gelangt man in die spanische Enklave, sondern auch schwimmend.
"Zwanzig Minuten habe ich gebraucht, um den Strand von Melilla zu erreichen. Eines der Kinder, die es mit mir versucht haben, ist dabei ertrunken", erzählt uns der junge Algerier Samir. Er ist ein Krieger. Er denkt, fühlt und lebt das Leben eines Kriegers. Die Narben auf seinem Körper erzählen von seinen zahlreichen Kämpfen. Ob sie auf der Straße oder den verschwitzen Hallen ausgetragen wurden, bleibt unklar. Denn Samir ist ein ehemaliger Jiu-Jitsu- Champion. Samir führt uns durch Melilla.
Immer dabei ein großer, stiller Algerier, der nicht von seiner Seite weicht. Es wird schnell klar, dass Samir unter den algerischen Flüchtlingen eine Führungsrolle einnimmt. Er zeigt uns die Ruinen, in denen sie hausen, und die kleine Wasserstelle, die ihnen zum Waschen dient. Daneben türmt sich der Müll im Schilf. Sie sind nicht wie die anderen Flüchtlinge in einem Auffanglager registriert, sondern leben an den Behörden vorbei. Ihr Gesetz ist das der Straße. "Wollt ihr heute Nacht mit uns an den Frachthafen kommen?", fragt Samir, während er versucht, seinen kaputten Flipflop zu reparieren.
Es ist zwei Uhr nachts, und wir befinden uns auf einem Boulevard. Neben uns ein langer Zaun und unter uns der Hafen und die Polizei. "Gebt ihnen kein Feuer", ermahnt uns Samir, während wir über die Füße, der Straßenkinder steigen, die zusammengekauert auf dem Boden liegen, ihre Gesichter in Decken vergraben. Es ist weniger der Versuch zu schlafen als der, der Gegenwart zu entfliehen. Neben uns schnüffeln zwei Gestalten die giftigen Dämpfe einer brennenden Plastiktüte, während immer mehr Jugendliche über das abgesperrte Eisentor auf den Boulevard klettern.
In dieser wolkenlosen Nacht soll sich ihr großer Traum erfüllen: Sie wollen als blinde Passagiere im Frachtraum einer Fähre nach Europa. Wir fallen schnell auf und werden von einer Gruppe marokkanischer und algerischer Straßenkinder eingekreist, keiner von ihnen älter als sechzehn. Sie sprechen eine Mischung aus Arabisch, Französisch und Spanisch. Zwei Jugendliche schieben aus der Dunkelheit einen sechsjährigen Jungen in die Mitte der Gruppe. Er öffnet die Hand und bettelt um Geld, eine Routine, die sich vom Alltag auf der Straße auf die Situation mit uns auf dem Boulevard überträgt. Die Älteren lachen ihn aus und wollen, dass er damit aufhört, doch er kann es nicht. Er steht offensichtlich unter dem Einfluss der Droge. Wie ein Spielzeug, das uninteressant geworden ist, stoßen die anderen ihn wieder aus der Gruppe.
Die Fähre
In diesem Moment tauchen Samir und sein stiller Begleiter auf. "Es ist so weit. Kommt mit." Gemeinsam gehen wir entlang des Zaunes, während die Straßenkinder uns wie Silhouetten im Gegenlicht der Hafenbeleuchtung begleiten. Im Hintergrund ankert die Fähre nach Almería. Nach circa fünfzig Metern kommen wir zu einem großen Loch im Zaun, aus dem ein Seil hinab in den Hafen hängt. Es geht auf einmal sehr hektisch zu. In diesem Moment werden wir voneinander getrennt.
Dutzende Kinder strömen herbei, für die nur eines zählt: das Seil hinunterzuklettern, einen zweiten zwei Meter hohen Zaun zu überwinden und die knapp zweihundert Meter Straße über die Laderampe ins Innere der Fähre hinter sich zu bringen, ohne von der Hafenpatrouille erwischt und verhaftet zu werden.
Ich lege mich auf den Boden, die Kamera in der Hand. Der erste Junge klettert das Seil herunter, er schafft es. Ein weiterer lässt das Seil zu früh los, stürzt und verliert einen Schuh. Begleitet vom Gelächter der Kinder schafft er es schließlich auch. Je mehr Kinder es in das Hafengelände schaffen, desto mehr steigt die Euphorie derjenigen auf dem Boulevard. Sie klatschen in die Hände und jubeln, sobald einer der ihren im Inneren des Schiffes verschwunden ist.
"Film das"
Ein junger Marokkaner, nicht älter als fünfzehn, tritt bedrohlich an mich heran. Seine Gesichtszüge unterscheiden sich in ihrer Härte und Entschlossenheit von den Gesichtern der anderen. Es handelt sich um den Patron, den Ranghöchsten des Frachthafens, für den Hass und Gewalt offensichtlich alltäglich geworden sind. Er befiehlt mir, mit dem Filmen aufzuhören, und holt ein Messer aus seiner Hosentasche, dessen im Halbdunkel schimmernde Klinge er mir vors Gesicht hält.
Im nächsten Moment packt er mich an der Schulter, seine Finger graben sich in meine Haut. In seinen Augen funkeln die Träume der Billigdrogen. Mit festem Griff treibt er mich vor sich her. Nach fünfzig Metern bleibt er atemlos stehen, lässt mich jedoch nicht los, sondern deutet nach unten. Ein Junge hinkt verletzt zum Ausgang des Frachthafens. Sein T-Shirt ist zerrissen, er blutet und kann sich nur schwer auf den Beinen halten. Ein Polizist am Ausgang bemerkt ihn und geht auf ihn zu, während er sich seine schwarzen Handschuhe anzieht.
"Film das", fordert der Patron mich plötzlich auf, lockert seinen Griff und ruft dem Jungen etwas zu, der darauf sein T-Shirt hochzieht und seinen mit blauen Flecken übersäten Oberkörper zeigt. "Film das", insistiert der Patron. In seinen Worten schwingt die Hoffnung mit, dass unser Film etwas verändern könnte - oder zumindest die Polizisten als Gewalttäter entlarvt. Das Gesicht des Jungen verzerrt sich, als der Polizist auf ihn zugeht und ihn lautstark auffordert, das Hafengelände zu verlassen. Als der Junge es nicht aus eigener Kraft schafft, hilft der Polizist ihm zu meiner Überraschung auf und stützt ihn einige Meter. Der Patron ist zufrieden und hilft mir, zurück über das Eisentor zu klettern. "Wir sind Freunde, aber wenn er dieses Zeug geschnüffelt hat, wird er aggressiv", sagt Samir, der draußen auf uns gewartet hat. "Dann löst er jedes Problem mit dem Messer."
Mit gesenktem Kopf und ohne Schuhe an den Füßen sitzen vier jugendliche Flüchtlinge nebeneinander auf dem Boden, über sie beugt sich ein Polizist. Ihre Schuhe liegen neben ihnen zu einem Haufen zusammengeworfen, damit sie keine schnelle Flucht versuchen können. Es ist eine andere Nacht, doch wieder befinden wir uns am Hafen. Für die Flüchtlinge unter uns ist der Traum, nach Europa zu kommen, ein weiteres Mal geplatzt. "Früher haben es vier Kinder pro Woche geschafft. Jetzt kommen die wenigsten weg", hatte uns Samir nach den Erlebnissen auf dem Boulevard erzählt und wir erinnern uns seiner Abschiedsworte: "Mir egal, ob Europa sich um mich kümmert. Ich komme sowieso - mit dem Schiff oder einem gefälschtem Pass."
Ein Polizeiauto erscheint und der Polizist schiebt einen Jungen nach den anderen auf die Rückbank des Gefährts und schließt die Tür. Alles ist still, und wir beobachten noch lange das Polizeiauto beim Wegfahren. Fast zeitgleich legt unsere Fähre ab, und wir verlassen den afrikanischen Kontinent. Einfach so. (DER STANDARD, 27.12.2014)