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Der neue Chefberater des türkischen Premiers: Etyen Mahcupyan.

Foto: AP Photo/Murad Sezer

Aus der illustren Brigade türkischer Regierungsberater schiebt sich dieser Tage ein Mann hervor, der seinen Beobachtern besonders viele Rätsel aufgibt: Etyen Mahçupyan. Der Soziologe, Ex-Chefredakteur und liberal gesonnene Kolumnist hat zahlreiche Bücher über den Demokratisierungsprozess der Türkei und den mörderischen Umgang mit Minderheiten im Land verfasst. Mahçupyan ist armenischstämmiger Türke. Was aber macht ein solcher Intellektueller in einem politischen Führungszirkel, dessen Wortmeldungen mittlerweile zwischen Paranoia und skrupellosen Populismus changieren? Good question.

Seit Oktober ist Mahçupyan Chefberater des türkischen Premierministers Ahmet Davutoglu, ebenfalls ein Akteur, dessen Wandlung vom freundlich harmlosen Politikprofessor über einen neo-osmanischen Machtfantasien nachhängenden Außenminister zum wochenendlichen Schaubudenredner auf Parteikonferenzen in der anatolischen Provinz viele frühere Universitätskollegen und Wegbegleiter vor den Kopf stößt. Jüngste Auslassung des Premiers: Er werde nicht zögern, einem Bruder, der sich der Korruption schuldig mache, den Arm abzutrennen, verkündete Davutoglu dieser Tage in einer offensichtlichen Anspielung auf die Scharia (Arm ab, Hand ab, Fuß ab), was den konservativen türkischen Wählern gefallen soll, und gänzlich ungeachtet des Umstands, dass seine Regierung und der dieser nun vorsitzende Staatspräsident alles in ihrer Macht stehende taten, um die Korruptionsermittlungen gegen vier frühere Minister und deren Geschäftsfreunde niederzuschlagen.

Mehr Freisinn und Widerrede

Was sagt Davutoglus Chefberater dazu? Die Regierung könne nicht ewig die Korruptionsvorwürfe verstecken, erklärte Etyen Mahçupyan; selbst die Hälfte der AKP-Wähler sei überzeugt, diese Anschuldigungen hätten einen wahren Kern. So viel Freisinn und Widerrede sind ungewohnt in Partei und Regierung.

Mahçupyan aber ist zuständig für gesunden Menschenverstand, alles ins Lot rücken und Verteidigung der regierenden konservativ-islamischen AKP gegen Anfeindungen aus dem westlichen Ausland und dem kemalistischen Inland. Der Übergang vom parlamentarischen zum präsidentiellen System in der Türkei unter Dehnung der gegenwärtigen Verfassung? Gut, wenn es der "Stabilität" diene; das jetzige System sei jedenfalls nicht mehr haltbar. Der Freedom House Report über Zensur und Einschüchterungen der türkischen Medien durch die Regierung? Eine "lächerliche Quelle" und die Behauptung von erzwungenen Entlassungen "einiger Journalisten" nach den Gezi-Protesten 2013 "völlig grundlos". Erdogan zunehmend autoritär? Das kommt darauf an...

Der Westen übertreibe die "Irrtümer", die Erdogan begehe, schrieb Mahçupyan noch als Kolumnist der Gülen-Tageszeitung "Zaman" im vergangenen Mai. Die "fehlgeleitete" türkische Außenpolitik im Nahen und Mittleren Osten gebe dieser Kritik noch zusätzliche Nahrung, so erklärte er und meinte damit immerhin die Außenpolitik seines späteren Chefs Ahmet Davutoglu. Doch die AKP sei die einzige Partei, die Reformen und soziale Transformationen in Hinblick auf eine EU-Mitgliedschaft der Türkei voll unterstütze, behauptete Mahçupyan. Das war zu einem Zeitpunkt, an dem die AKP-Regierung bereits das Internet vor den Kommunalwahlen blockiert, Staatsanwälte, Richter und Polizeibeamte zwangsversetzt und das Selbstverwaltungsorgan der Justiz unter die Kuratel des Justizministers gestellt hatte. "Die AKP möchte absolut, zu 100 Prozent, den Beitritt zur EU und ihre Macht in Europa zeigen", sagte er unverdrossen dieser Tage, nach den Verhaftungen von Journalisten und Polizeibeamten am 14. Dezember, in einem Gespräch mit der Nachrichtenagentur AFP. Erdogan sei enthusiastisch und habe Vertrauen zu sich selbst, erklärte Mahçupyan; der heutige Staatschef könne sich deshalb keine Türkei vorstellen, die in der zweiten Liga spiele: "Er will in der ersten Liga spielen."

Neue Tätigkeiten

Mahçupyan trennte sich im Mai 2014 von "Zaman", und schreibt nun neben seiner Beratertätigkeit vor allem für das Regierungsboulevardblatt "Akşam" und das neue englischsprachige Mundstück der AKP, Daily Sabah (Erdogans Wirtschaftsberater Yigit Bulut veröffentlicht seine Ergüsse in der Regierungszeitung Star). Denn wie andere türkische Liberale auch, der AKP allerdings nicht so gewogene Geister wie Oral Çalışlar oder Ruşen Çakır, sieht Etyen Mahçupyan die Korruptionsermittlungen vom Dezember 2013 tatsächlich als einen Putschversuch der Gülen-Bewegung gegen die Regierung Erdogan. Die autoritär-populistischen Anwandlungen Erdogans versucht Mahçupyan, mittlerweile 64, eben in dialektischer Weise zu erklären. Oder er gibt vor, sie zu ignorieren, wie etwa jenen Wahlkampfauftritt Erdogans im August 2014, als der Präsidentenkandidat nach Beifall heischend und rassistische Einstellungen bedienend von erlittenen Schmähungen erzählte: "Sie haben sogar noch viel hässlichere Dinge gesagt - sie haben mich einen Armenier genannt".

Als einer dieser "hässlichen Armenier" in der Regierung der anatolischen Sunniten glaubt Mahçupyan weiter an die Zukunft der AKP. Für Ahmet Davutoglu ist er außenpolitisch im kommenden Jahr zweifellos wertvoll: Am 24. April jährt sich der Genozid-Gedenktag der Armenier zum 100. Mal, und die türkische Regierung versucht sich bereits gegen neue internationale Forderungen zur Anerkennung des Völkermords und zur Normalisierung der Beziehungen mit Armenien zu wappnen. Mahçupyan, der nach Hrant Dinks Ermordung 2007 für einige Jahre die Führung der armenisch-türkischen Wochenzeitung "Agos" übernommen hatte, ist in seiner Gemeinschaft natürlich umstritten. Die Mehrheit der armenischen Intellektuellen in der Türkei seien "Clowns", schrieb er einmal in einer seiner Kolumnen, linke Träumer, Kemalistenanhänger wider Willen, die nicht begriffen, dass die konservativ-muslimische AKP der tatsächliche Fortschritt sei. Mahçupyan musste sich dafür gefallen lassen, ein "Hofnarr" Erdogans genannt zu werden.

Mittlerweile gibt es andere Einschätzungen und Spekulationen, was Mahçupyans Funktion als Chefberater des Premiers bedeutet: Ahmet Davutoglu gilt als unbelastet von Korruptionsvorwürfen, seine Arbeitsteilung mit dem Staatspräsidenten als nicht ganz reibungslos. In einigen Personalfragen konnte sich Davutoglu nicht gegen Erdogan behaupten. Dass Davutoglu den armenisch-türkischen Intellektuellen Etyen Mahçupyan zu seinem Chefberater machte, wird deshalb als gewisse politische Distanzierung zu Erdogan verstanden, die sich langfristig ausweiten kann. (Markus Bernath, derStandard.at, 27.12.2014)