STANDARD: Herr Kovar, Sie haben die Initiative #besserentscheiden gestartet, die nun ein "Grünbuch" – so nennt die EU-Kommission Diskussionspapiere zu einem bestimmten Thema – über "offene Gesetzgebung" vorgelegt hat. Was möchten Sie damit erreichen?
Kovar: Der Impuls war, dass wir, zuletzt eine Gruppe von 50 Leuten, festgestellt haben, dass in der ersten Phase, wenn ein Gesetz entwickelt wird, in Österreich nicht offen diskutiert wird und die Zivilgesellschaft, aber zunehmend auch Nationalratsabgeordnete und Bundesräte außen vor sind. Die öffentliche Debatte beginnt eigentlich erst mit der Vorlage eines Gesetzesentwurfs. Da sind Veränderungen nur mehr schwer möglich. Das läuft in anderen Staaten ganz anders: zuerst Diskurs, dann ausgestalten. Wir schauen immer darauf, wer trifft die Entscheidung. Das Wesentliche ist aber, wer an der Diskussion beteiligt ist. Diese Diskussion ist in Österreich immer enger geworden. Das System der Spiegelminister etwa, etabliert 2000 von Schwarz-Blau, führt dazu, dass die Diskussionen innerhalb der Regierungsriege geführt werden und die Parlamentsklubs der Regierungsparteien nicht unbedingt involviert werden müssen.
STANDARD: Herr Gerstl, dass Sie als Vertreter einer Regierungspartei, der ÖVP, mitmachen, darf man das auch als Kritik am derzeitigen Gesetzgebungsprozess interpretieren?
Gerstl: Ich stelle nach über 30.000 Hausbesuchen immer mehr fest, dass nicht viel Wissen da ist über die Arbeit, die in einer Regierung zu erledigen ist. Ich bin auf dieses Projekt aufgesprungen, weil mir die Idee gefällt, ähnlich wie es bei der EU schon funktioniert, dass man zuerst mithilfe von Grünbüchern und dann Weißbüchern versucht, die Zivilgesellschaft und Experten miteinzubeziehen. Das ist enorm wichtig. Ich möchte in einer Beziehungsdemokratie leben. Ich will in einem intensiven Dialog mit der Bevölkerung Wissen transportieren, bevor Entscheidungen getroffen werden. Denn dann sind wir, wenn wir das im Parlament diskutieren, schon in einer Endphase des Diskussionsprozesses. Durch die Einbindung von acht Bürgern in die Demokratie-Enquete haben wir erste Schritte gemacht. Wenn wir das ein bisschen organisierter machen, könnten wir viel gewinnen.
STANDARD: Herr Brosz, als Oppositionsabgeordneter sind Sie ja gewohnt, dass Sie nicht oder nur wenig eingebunden werden in die Entstehung von Gesetzen. Was stellen Sie sich unter "offener Gesetzgebung" vor?
Brosz: Natürlich haben wir das Problem, dass der Großteil der Gesetze ziemlich unverändert ins Parlament kommt und dann auch so beschlossen wird. Im amerikanischen System ist das Gegenteil der Fall. Dort gibt es de facto kein Gesetz, das so rausgeht, wie es reinkommt. Dort arbeitet das Parlament. Aber bei uns war der neue Untersuchungsausschuss das Musterbeispiel für ein Gesetz, das parlamentarisch erarbeitet wurde. Es würde also auch anders gehen. Man sah aber auch die Grenzen. Das Parlament kann, wenn es sich emanzipieren wollte, mit den jetzigen Ressourcen schwer auskommen. Bei Begutachtungsverfahren ist es oft unmöglich, Stellungnahmen vernünftig aufzuarbeiten. Man kann zwar durch die Texte surfen, aber das ist nicht zumutbar für einen transparenten Gesetzgebungsprozess. Beim U-Ausschuss-Minderheitsrecht hatten wir zwar Stellungnahmen von der Zahnärztekammer und den Tierärzten, weil die Kammern immer Stellungnahmen abgeben können, aber keine von Transparency International oder vom Forum Informationsfreiheit, die werden gar nicht eingeladen, obwohl sie wirklich etwas beitragen könnten.
STANDARD: Im Kern geht es Ihnen darum, in Österreich das zu etablieren, was man "deliberative Demokratie" nennt. Also durch vorgelagerte Debatten möglichst konsensual Ergebnisse zu erarbeiten. Wenn hierzulande die Rede von Demokratisierung der Demokratie ist, geht es ja meistens um mehr direkte Demokratie und Abstimmen. Welche Beispiele für deliberative Politik gibt es?
Kovar: Deliberative Demokratie begann nicht erst mit Jürgen Habermas, die Idee ist deutlich älter. Herodot sagte: Wenn nicht Meinung gegen Meinung offen gesagt wird, lässt sich die bessere nicht herausfinden. Gute Beispiele für deliberative Demokratie mit sehr starker Diskussion sind die skandinavischen Staaten. In Dänemark gibt es oft Minderheitsregierungen, weil man sich sowieso für jede Gesetzesvorlage im Parlament eine Mehrheit suchen muss. Es gibt dort eher ein Arbeitsprogramm des Parlaments und kein Arbeitsprogramm der Regierung. Das klingt für Österreich utopisch, dass man nach einer Wahl mit den Oppositionsparteien ein Arbeitsprogramm entwickelt. Das wäre zum Beispiel bei Zweidrittelmaterien von Vorteil, um sicherzustellen, dass ich dann die Mehrheit habe.
STANDARD: Deliberative Demokratie basiert ja auf der Vorstellung eines herrschaftsfreien Diskurses. Wie wollen Sie den Herrschenden schmackhaft machen, dass sie im Vorfeld neben Abgeordneten auch Opposition und Bevölkerung einbinden? Das macht das Regieren ja auch mühsamer.
Gerstl: Ja, aber auch erfolgreicher. Es zeigt sich, dass sich immer mehr Leute vom aktiven politischen Leben zurückziehen. Die Wahlbeteiligung sinkt, und eine bestimmte Schicht hat gar kein Interesse an Politik. Auf die müssen wir zugehen und Partizipationsmöglichkeiten schaffen. Ich glaube, dass viele Leute gar nicht so sehr jede Entscheidung selber treffen wollen, sondern ganz glücklich sind, dass es die repräsentative Demokratie gibt, mit Leuten, die für sie entscheiden, aber sie wollen informiert sein. Sie wollen wissen, wer handelt wie und warum. Ich fände ein Arbeitsprogramm für den Nationalrat auch toll, insbesondere in Verfassungsfragen, umso mehr, wenn wir davon ausgehen, dass wir wohl nicht mehr so schnell eine Regierung mit Verfassungsmehrheit haben werden. Wir müssen schauen, dass die Lücke zwischen Parlament und Bevölkerung nie zu groß wird. Wir brauchen eine Trendumkehr: gleichmäßige Gewaltentrennung zwischen Regierung und Parlament und dazu Deliberation, und die Demokratie wird in neuem Licht erstrahlen.
Brosz: Bei uns braucht alles, was im Parlament diskutiert wird, einen Antrag, eine Regierungsvorlage, was bei konkreten Punkten ziemlich "strange" ist. Beispiel Giftskandal in Kärnten. Das ist ja nicht nur eine Landesgeschichte. Da könnte man ja auf die Idee kommen, dass das Parlament irgendetwas damit macht. Aber zuerst muss man einen Antrag einbringen, der muss zugewiesen werden, wenn er irgendwann auf die Tagesordnung kommt, kann der Ausschuss vielleicht drei Monate später darüber reden, wenn’s schon vorbei ist. Das wäre in Finnland völlig anders. Wenn dort ein Problem auftritt, findet in kürzester Zeit eine Debatte statt. Österreich ist vermutlich eines der Länder mit der wenigsten Ausschussarbeit. Bei uns kommt ein Ausschuss zustande, wenn die Regierung eine Vorlage durchbringen muss, sonst ist es ein ewiger Kampf, einen Termin zu bekommen. Bei den Finnen tagt der Zukunftsausschuss jede Woche dreimal, der finnische Abgeordnete kommt am Montag, sitzt im Ausschuss und fährt am Freitag wieder heim. Der Zukunftsausschuss mit wissenschaftlichem Stab definiert ein Arbeitsprogramm, und aufgrund dieser Diskussionen ergeben sich gesetzliche Initiativen.
STANDARD: Wie wollen Sie sicherstellen, dass dann nicht nur die Lauten, die Artikulationsfähigen, die Wortgewaltigen, die Intellektuellen und die Zahnärztekammer mitreden und über die anderen drüberfahren?
Kovar: Natürlich werden Institutionen und die organisierte Zivilgesellschaft solche Instrumente zuerst und stärker nutzen. Das ist aber nicht prinzipiell ein Nachteil. Auch in der Schweiz gehen Volksinitiativen meist von Institutionen, Vereinen oder extra gegründeten Bürgerinitiativen aus. Es wird sicher auch neue Dienstleistungen, eventuell sogar neue Berufsbilder geben, die die Übersetzungsarbeit übernehmen müssen. In der Schweiz gibt es TV-Formate, die in Österreich ausgestorben sind, oder starke Kommentarteile in Zeitungen, die diese Demokratieakte erklären.
STANDARD: Der Name Ihrer Initiative für einen offenen oder wenigstens offeneren Gesetzgebungsprozess heißt #besserentscheiden. Ist denn die Mehrheit, die Crowd, immer auf der Seite der besseren Entscheidungen?
Kovar: Unbestritten ist Demokratie gut. Wir nehmen daher an, dass mehr Demokratie besser ist. Neben Qualität und Akzeptanz gibt es aber auch noch die Frage, ob der politische Diskurs fair ist. Das ist er derzeit nicht. Fairness kann nur sichergestellt werden, wenn der Prozess einsehbar und nachvollziehbar ist. Dann wird nicht nur die Qualität steigen, sondern ich werde mich auch besser fühlen, weil ich prinzipiell die Möglichkeit habe, mich zu beteiligen. Wir sind in einer Umbruchphase, wo man neu verhandeln muss, wie unsere Demokratie funktionieren soll.
Brosz: Das Umfeld, in dem Politiker aktiv sind, hat sich sehr verändert. Früher war das schon ein geschütztes System im Parlament. Durch die neuen Medien kommt die Kritik viel direkter an die Abgeordneten. Das Problem dabei: Es wird Kritik reingespült, aber was passiert damit? Das ist die Schraube, an der man drehen muss. Eine Onlinepetition mit 250.000 Unterstützern wie jene für den Hypo-U-Ausschuss wird anders zu handhaben sein als eine, die 25 Leute unterschreiben. Das passiert momentan aber nicht. Der heikle Punkt ist, Erwartungshaltungen nicht komplett zu enttäuschen, damit es nicht ins Gegenteil kippt.
Gerstl: Das Vertrauen in die Politik als solche ist generell zurückgegangen. Das hat auch mit einem gewissen Wohlstand zu tun, dass es für einige Bevölkerungsgruppen nicht notwendig ist, sich am politischen Prozess zu beteiligen, weil sie sich unabhängig davon entwickeln können. Aber als Vertreter einer Partei oder der Demokratie ist es mir wichtig, dass sie immer wieder zurückkommen, weil das Schlimmste, was passieren kann, ist, wenn auf einmal nur mehr kleine Gruppen entscheiden, wie dieses Land regiert werden soll. Politik heißt ja nichts anderes, als Anteil zu nehmen am öffentlichen Leben. Das ist unser Job, die Demokratie zu sichern. Wir hatten in der Vergangenheit leider schon mehrmals Momente, als die Demokratie auch durch die Demokratie ausgehebelt wurde, und ich möchte kein zweites Mal dorthin kommen. Davor habe ich einen totalen Horror, darum müssen wir stets daran arbeiten. (Lisa Nimmervoll, DER STANDARD, 29.12.2014)