Raser in Nobelkarossegerät auf einer Landstraße in tödlichen Streit: Damián Szifróns "Wild Tales" erzählt von einfachen Leuten, die unfähig zu Umkehr und Einsicht sind.

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Wien - Im Normalfall haben die Passagiere eines Flugzeugs nichts gemeinsam außer dem Ziel. Wenn sich im Smalltalk hoch über den Wolken also herausstellt, dass man denselben Bekannten hat, scheint dies Zufall zu sein - es sei denn, keine höhere Macht ist für die Passagierliste verantwortlich, sondern ein ausgeklügelter Plan. Und dennoch sind zu Beginn von Wild Tales (Relatos salvajes) keine Verbrecher, Gauner oder Terroristen versammelt, sondern gewöhnliche Schullehrer, Nachbarn und Freunde. Was nicht bedeutet, dass ebendiese Normalität nicht den größten Schaden zufügen kann.

So wie in dieser ersten Kurzgeschichte, die der argentinische Regisseur und Autor Damián Szifrón vor den Vorspann seines insgesamt sechs Episoden umfassenden Films platziert, nehmen auch in den übrigen Erzählungen die Dinge unweigerlich ihren Lauf. Ein Wort ergibt das andere, ein Schritt folgt dem nächsten. Jede Handlung löst eine Kettenreaktion aus, die nicht mehr zu stoppen ist, weil die Menschen unfähig zu Umkehr und Einsicht sind. Es geht in diesen tatsächlich einigermaßen wilden Geschichten um Rache und Vergeltung, um Mord und Totschlag, um Untreue und Eifersucht. Letzten Endes handelt Wild Tales jedoch von der Schwäche des Menschen ohne Rücksicht auf eigene Verluste.

Dabei sind es vor allem die unterschiedliche Tonlage und Akzentuierung der von Szifrón auch geschriebenen Geschichten, die den Reiz dieser Sammlung ausmachen. Ob die Kellnerin eines Schnellimbisses in einem Kunden den Mann zu erkennen glaubt, der ihre Eltern in den Tod getrieben hat, ob sich auf einer einsamen Landstraße die Fahrer eines Kleinlasters und einer Nobelkarosse wie in Steven Spielbergs Duel einen Kampf auf Leben und Tod liefern oder ob noch während der Hochzeitsfeier die Braut wegen eines Seitensprungs ihres Mannes das Fest in ein Fiasko verwandelt: Geschickt wechselt Szifrón mit jeder Episode Schauplatz und Atmosphäre. Das Absonderliche findet sich indes überall, wo Menschen am Werk sind.

Auch wenn in der einen oder anderen Erzählung in Ansätzen ein sozialkritisches Potenzial spürbar ist und die Frage nach der Moral mit jener nach Wohlstand verknüpft wird, interessiert sich Szifrón stets für die Wirkung und nicht für die Ursache. Vielleicht überrascht auch deshalb jene Episode am meisten, in der ein Sprengmeister sich wegen eines lapidaren Verkehrsdelikts an der Stadtbehörde zu rächen beginnt. Hier führt die Wut, die in fast allen Figuren kocht, auch zu politischer Sprengkraft: Nach seinem vergeblichen Spießrutenlauf gegen die Willkür der Obrigkeit wird der friedfertige Bürger zum Rächer der Missachteten.

Auch wenn Wild Tales seine Originalität oft mehr behauptet als beweist - die gute Pointe weiß Szifrón wohl zu schätzen. Und womit sonst könnten gute Kurzgeschichten am besten enden? (Michael Pekler, DER STANDARD, 30.12.2014)