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Identität als Prozess, der nie abgeschlossen ist. Karoline Feyertag sieht solche offenen Konzepte durch ein neues starkes Bedürfnis nach homogenen Identitäten überlagert.

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Karoline Feyertag: "Es gibt eine große Unfähigkeit von liberalen Gesellschaften, Positionen zu rechtfertigen."

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STANDARD: Sie beschäftigen sich mit der französischen Philosophin Sarah Kofman, die heuer 80 Jahre geworden wäre. 1994 nahm sie sich das Leben. Zumindest in Österreich ist sie nicht sehr bekannt. Ein Philosophinnen-Schicksal?

Karoline Feyertag: Kofman ist auch in Frankreich unbekannt. Man findet ihre Bücher in den Buchhandlungen nur aufgeteilt in die verschiedenen Genres: Literatur- oder Kunsttheorie, Philosophie oder Psychoanalyse. Überall, wozu sie thematisch gearbeitet hat. Ihr guter Freund Jacques Derrida hat meistens eine eigene Abteilung. Wie auch bei vielen anderen Philosophinnen wird auch Sarah Kofman noch immer als Schülerin bezeichnet, als Schülerin des berühmten Derrida. Dabei war es absolut kein Schülerin-Lehrer-Verhältnis, sondern eine Freundschaft, die sich erst entwickelte, als Kofman schon Bücher publizierte und ihren Begriff der Dekonstruktion erarbeitet hatte.

STANDARD: Hat sie die Geschlechterverhältnisse in der Philosophie je thematisiert?

Feyertag: Ihr Verhältnis zu feministischen Fragen war immer ambivalent. Sie hat auch selbst den Ausschluss von Frauen in der Philosophie fortgeführt, indem sie nur Männer gelesen und rezipiert hat. Gerade aber Freud, Kant und Rousseau hat sie als eine der Ersten feministisch interpretiert. Von sich selbst hat sie zwar immer als "Philosoph" gesprochen, in dem Sinne, dass es eigentlich unerheblich sein sollte, welches Geschlecht Philosophie betreibt. Daher war es schwierig für mich, meine Biografie über Kofman als Sichtbarmachung von Frauen in der Philosophiegeschichte zu deklarieren. Andererseits ist es auch notwendig, weil nach wie vor von Frauen in der Philosophie kaum die Rede ist.

STANDARD: Wo liegen die Eckpfeiler Kofmans philosophischer Arbeit?

Feyertag: Dekonstruktion ist ihr Hauptstichwort, also der Versuch, kohärente philosophische Systeme auf Paradoxien hin zu untersuchen, um grundlegende Widersprüchlichkeiten im Denken aufzuzeigen. Und ein großer Anreiz, Kofman zu lesen, ist ihr Begriff des "neuen Humanismus". Kofman war die Tochter eines Rabbiners, er wurde in Auschwitz ermordet. Vor diesem Hintergrund der Massenvernichtung im Zweiten Weltkrieg, wollte sie zwar den Anspruch der Aufklärung, dass der Mensch vernunftbegabt ist, nicht aufgeben. Doch sie wollte Möglichkeiten finden, den Vernunftsbegriff neu zu denken: Verbunden mit der Einsicht, dass nicht Vernunft allein das Handeln des Menschen bestimmt, sondern auch Bedürfnisse, Triebe und Gefühle. Diese durchkreuzen die kausale Logik, weshalb der Humanismus auch immer neu erobert werden muss.

STANDARD: Also als ein laufender Aushandlungsprozess?

Feyertag: Ja. Es geht um die Frage, wie ein "Wir" unter Einschluss von Differenzen denkbar ist. Eine Antwort ist: nur unter Einschluss dieser Differenzen. Denn die Differenzen zwischen dem Ich und dem Du sind überhaupt erst der Grund für ein "Wir". Sarah Kofman will einen Umgang mit diesen Differenzen finden - sowohl auf einer philosophischen Ebene als auch auf der praktischen im Sinne von Handlungsanleitungen.

STANDARD: Sie schreiben in Ihrer Biografie über Kofman, dass die Form der Biografie in den postmodernen Debatten über den "Tod des Subjekts" in Kritik geraten ist. Warum? Wieso war diese These eine Zeitlang so wichtig?

Feyertag: Die Geschichte des Todes des Subjekts hat schon im 19. Jahrhundert mit Nietzsches "Gott ist tot" begonnen. Zuerst der Tod des Monotheismus, dann des Subjekts. Mit der Psychoanalyse war das Ich plötzlich auch nicht mehr Herr im eigenen Haus, und der Linguist Ferdinand de Saussure wollte zeigen, dass nicht wir sprechen, sondern die Sprache uns spricht. Diese drei Momente sind klassisch für die These vom "Tod des Subjekts". Später kam dann Michel Foucault mit der These, dass die Subjekte unter die Disziplinierungsmechanismen des Staates unterworfen sind.

STANDARD: Warum war gerade in den 1970ern die Rede vom Tod des Subjekts so populär?

Feyertag: Es war ein Schlagwort, um bewusst zu machen, dass die Gesellschaft verändert werden muss, aber nicht unbedingt die Subjekte. Man wollte weg von einer esoterischen Wende, die wir im Übrigen heute wieder haben: dass wir in uns schauen müssen und uns verändern müssen. Stattdessen sollte es um eine Veränderung der Rahmenbedingungen gehen. Und die Form der Biografie stand deshalb unter Kritik, weil sie so etwas wie eine Kohärenz des Subjekts voraussetzte, die es so nicht gäbe.

STANDARD: Was Sie mit der für Kofman zentralen Methode der Dekonstruktion lösen wollten.

Feyertag: Ja, denn bei der Dekonstruktion geht es um eine Rekonstruktion der Textentstehung. Wie ist ein Text aufgebaut? Wie sind die Argumentationsschritte, und vor allem: Wo sind die Widersprüche? Denn erst diese Widersprüche wirken konstruktiv, sie werden als die eigentlichen produktiven Momente eines Textes gesehen. So kann man an Texten konstruktiv eine Interpretation vornehmen, und so wollte ich auch bei der Erkundung von Sarah Kofman und ihrer philosophischen Arbeit vorgehen.

STANDARD: Als ein aktuelles und breiteres Phänomen, als es eine philosophische Diskussion um den Subjektbegriff ist - aber dennoch damit verwandt -, könnte man die Debatte über "Identität" nennen. Es geht aktuell viel um "europäische" oder "abendländische" Identität.

Feyertag: Ja, Identitätspolitik wird wieder verstärkt diskutiert. Während man in den 1970er-Jahren versucht hat, die Heterogenität der Gesellschaft in den Mittelpunkt zu rücken, will man heute wieder Homogenität. Ich sehe das auch stark in der Islamismus-Debatte: Was ist die österreichische oder die christliche Identität? Und auch daran, dass Religionen einen Aufschwung erleben. Das hängt meines Erachtens auch stark mit dem Terrorismus seit 9/11 zusammen. Seither gibt es etwas zu schützen, das eigentlich erst durch den Schutz konstruiert wird - etwa nationale Identität. Kofman beschreibt Identität hingegen als nichts Feststehendes, sondern als immer im Werden begriffen. Diese offenen Formen werden aber derzeit von einem starken Bedürfnis nach einer festen Identität verdrängt.

STANDARD: Gesellschaften, die sich als liberal verstehen, wollen feststehende Identitäten auch nicht anbieten. Dennoch sind sie nicht wertneutral, können ihre Positionen aber offenbar nicht sehr gut als solche vermitteln, oder?

Feyertag: Es gibt eine große Unfähigkeit von liberalen, demokratischen Gesellschaften, Positionen zu vertreten und zu rechtfertigen. Dabei wäre es so nötig, einen offenen und positiven Ethnozentrismus zu leben. Denn einen Standpunkt zu haben heißt nicht, dass dieser für immer feststehen muss, sondern er kann Basis für einen interkulturellen Dialog sein.

STANDARD: Ein positiver Ethnozentrismus?

Feyertag: Die Diskussionen um eine Gruppen- oder individuelle Identität sind nicht zu trennen von der Diskussion um die Menschenrechte, die auf den Ideen der Aufklärung basieren. Das ist ja immer der Vorwurf gegenüber den Menschenrechten von außerhalb Europas und Nordamerikas: dass die allgemeine Deklaration der Menschenrechte alleinig auf der europäischen Philosophie fußt. Dass die Menschenrechte also ethnozentrisch seien. Der Anspruch auf Universalität dieses europäischen Subjekts - das ist vielleicht eine der zentralsten Diskussionen, die jetzt anstehen. (Beate Hausbichler, DER STANDARD, 31.12.2014)