London - Es gab eine Zeit im Leben von Gary Anderson, in der standen Pfeile, das Bullseye und 180er Serien nicht mehr im Mittelpunkt. Vor rund drei Jahren musste der schottische Darts-Star innerhalb weniger Monate die Tode seines Vaters und seines Bruders verarbeiten. Seine Leidenschaft, seine Berufung und Profession traten in den Hintergrund.

Dabei war Anderson da gerade auf dem Höhepunkt seines Schaffens: Vize-Weltmeister, Sieg in der Premier League, ein Platz unter den besten Vier der Weltrangliste. "Die Leute haben über meine Würfe geredet und mir war das alles völlig egal", sagt der Familienmensch rückblickend. Der Einschnitt in seinem Leben war tiefer, als viele es gedacht hatten. Das macht ihn bis heute wütend: "Jeder, der sagt 'So etwas kann doch passieren', ist ein Idiot."

Zwei Jahre benötigte der inzwischen 44-Jährige, um sich mit wieder freiem Kopf und altem Feuer seinem Sport zu widmen - ein Comeback, das ihn am Sonntag im Londoner Alexandra Palace erstmals ganz nach oben führte: zur Weltmeisterschaft, nach einem 7:6 im Endspiel gegen Rekordchampion Phil Taylor.

Bild nicht mehr verfügbar.

Der alte König Phil Taylor kämpfte...
Foto: apa/epa/dempsey

Bild nicht mehr verfügbar.

...musste im Londoner "Ally Pally" jedoch am Ende doch Gary Anderson den Vortritt lassen.
Foto: apa/epa/dempsey

Bis Anderson realisierte, was passiert war, in den Armen seiner weinenden Partnerin Rachel, dauerte es allerdings. Nach dem entscheidenen Wurf im 13. Satz zeigte "The Flying Scotsman" erst einmal kaum eine Reaktion. Fast abwesend blickte er abwechselnd auf sein Glas Wasser, den gratulierenden Kontrahenten und das frenetisch jubelnde Publikum. Taylor, nach zweimaligem Aufholen eines Rückstands schließlich doch knapp geschlagen, klopfte Anderson kurz anerkennend auf die Schulter. In beiden Finalisten schien sich nach der Anspannung ihrer epischen Auseinandersetzung eine Leere breit gemacht zu haben.

Über zweieinhalb Stunden hatten sich Anderson und Taylor ein Match geliefert, das alle Stückerln spielte: Wechselnde Führungen, Aufholjagden, vergebne Chancen - ein Nervenspiel auf höchstem Niveau. "Ich war 6:4 vorne, aber nach der Pause hat sich Phil die nächsten beiden Sätze geholt - ich dachte, jetzt ist es vorbei", sagte Anderson, der im Halbfinale den niederländischen Titelverteidiger Michael van Gerwen ausgeschaltet hatte. Anderson hatte bereits davor eine 3:1-Führung aus der Hand gegeben, als "The Power" Taylor sich seinerseits ein 4:3 erkämpft hatte.

"Phil und ich haben uns in den letzten Jahren immer wieder duelliert. Er hat viel gewonnen, aber heute war ich dran", sagte Anderson, der neben der Sid-Waddell-Trophäe auch 250.000 Pfund (rund 320.000 Euro) Preisgeld mit in seinen englischen Wohnort Burnham-on-Sea nimmt.

Und selbst der als manchmal etwas überehrgeizig verschriene Taylor würdigte seinen Gegner herzlich: "Er hat im letzten Satz großartig gespielt und ist gut mit dem Druck umgegangen. Er ist ein hervorragender Spieler und verdient es." Für den erfolgsverwöhnten Engländer, den 16-maligen Weltmeister, könnte die knappe Niederlage ein Fingerzeig gewesen sein, dass seine Ära langsam doch zu Ende geht.

Nur ein Titel in den vergangenen fünf Jahren - Taylors Ausnahmestellung ist passé - auch wenn Anderson den 54-Jährigen mit den Worten adelte: "Er wird auch in 100 Jahren noch der Beste sein". (sid/red - 5.1. 2015)

Bild nicht mehr verfügbar.

Der neue Weltmeister im Kampf mit dem Pokal.
Foto: apa/epa/dempsey