Wer ist das? Die nach einer Gesichts-OP wieder ins Eigenheim entlassene Mutter (Susanne Wuest) beobachtet ihre beiden Buben draußen – für die handelnden Personen wie fürs Publikum bleibt im österreichischen Horrorfilm "Ich seh Ich seh" ein Restverdacht.

Foto: Stadtkino Filmverleih

"Ich seh, ich seh, was du nicht siehst": Der Titel des Films ist diesem alten Kinderratespiel entlehnt, bei dem besondere Aufmerksamkeit gefragt ist. Es verlangt nämlich nicht nur, genau zu schauen. Es setzt auch ein gewisses Kombinationsvermögen voraus – schließlich geht es nicht einfach darum, was sich im Gesichtsfeld der Aufgabensteller abspielt, sondern auch darum, was diesen auf- und einfällt, um den Ratenden die Lösung möglichst zu erschweren.

Ich seh Ich seh heißt also nicht von ungefähr die zweite Kinoarbeit des Wiener Autoren- und Regieduos Veronika Franz und Severin Fiala (produziert hat die Firma von Ulrich Seidl, dessen Arbeits- und Lebenspartnerin Franz seit langem ist). Nach Kern, ihrem dokumentarischen (Selbst-)Porträt des Schauspielers und Filmemachers Peter Kern, haben sich die beiden damit der Fiktion zu gewandt. Und einem populären Filmgenre, das im heimischen Kontext verhältnismäßig unterrepräsentiert ist: Ich seh Ich seh ist ein Horrorfilm. Und überdies ein Exemplar dieses Genres, das sich aus der Kenntnis seiner Gattung speist und das sich auch als eine spielerische Auseinandersetzung mit dessen Konventionen und Subgenres lesen lässt.

Demnach beginnt Ich seh Ich seh als Psychothriller und Mindgame-Movie. Eine Frau (schön unnahbar: Susanne Wuest) kommt mit einbandagiertem Kopf nach Hause zu ihren zehnjährigen Zwillingsbuben (Lukas und Elias Schwarz). Die Kinder beginnen bald, infrage zu stellen, dass diese Frau tatsächlich ihre Mutter ist.

Der Kopfverband verhindert die Feststellung ihrer Identität mit letzter Gewissheit, aber die angebliche Mama kann sich nicht einmal mehr ans Lieblingslied eines ihrer Söhne erinnern. Vielleicht ist sie ihrerseits auch bloß vom äußerlichen Identischsein der Buben verwirrt. Wer hat hier schon den Durchblick?

Spukhaus am See

Schauplatz des Films ist ein modernes Einfamilienhaus, das allein an einem See liegt in einer Landschaft aus Feldern und Wald. Auch diese Örtlichkeit macht sich der Film in bester Haunted-House-Tradition routiniert und gewitzt zunutze: Das offen gehaltene, sehr transparente Gebäude kann sich als Gefängnis entpuppen, Dinge verschwinden darin ebenso wie Menschen im nächtlichen Dunkel. Es wird zur Bühne für Standard-Suspense-Situationen, etwa wenn zwei Mitglieder Spenden fürs Rote Kreuz sammeln kommen und ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt, von dem die beiden Fremden keine Ahnung haben.

Die umoperierte Mutter erleidet nämlich bald eine Art Gesichtsverlust zweiter Ordnung. Ihre Autorität, die sie eine Zeitlang noch über die Kraft ihrer Stimme aufrechterhalten kann, geht flöten – die beiden zarten, blonden Knaben mutieren zur Höllenbrut. Ihre Kreativität kennt keine Grenzen. Kinder basteln gern. Der Film macht daraus eine (weitere) Spielart von zeitgenössischem Folterhorror. Zugleich werden punktuell Erinnerungen an die horrible Bilderwelt des italienischen Altmeisters Dario Argento wach.

Kühl temperiert

Allerdings bleibt Ich seh Ich seh – etwa im Vergleich mit Argento und nicht nur im Hinblick auf die Farbsättigung – konsequent kühl temperiert. Melodramatik, die man aus der dysfunktionalen Mutter-Sohn-Beziehung auch gewinnen könnte, wird nicht ausgespielt. Die Figuren bleiben so immer ein Stück entrückt und funktional (auch wenn im Kern ihres Dramas ein echtes Trauma schlummert). Den (physischen) Horror kann man sich so leichter vom Leib halten, dafür bleibt die Wahrnehmung bis zum Schluss gefordert. Wie hier im Bild (Kamera: Martin Gschlacht) und in der Montage (Schnitt: Michael Palm) mit Täuschungen (vermeintlichen und echten) gearbeitet wird, das macht Spaß.

Ich seh Ich seh hatte vergangenen Herbst bei den Filmfestspielen von Venedig in der experimentierfreudigen Reihe Orizzonti Premiere und machte anschließend auch beim Festival von Toronto Furore – niemand Geringerer als The Weinstein Company / Radius sicherte sich umgehend die Verleihrechte für Nordamerika. Zuerst läuft Ich seh Ich seh aber regulär in Österreich an. Ein unterkühltes Horrorrätsel, das auf Distanz hält, zarter Besaitete aber nichtsdestotrotz fordert. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 7.1.2015)