Wien - Dass Europa nach den Anschlägen in Paris letzte Woche mehr denn je in Bewegung ist, war am Sonntagvormittag auch im Wiener Burgtheater zu spüren. Ana Palacio, spanische Außenministerin zu Zeiten der Madrider Anschläge 2004, und Carl Bildt, Schwedens ehemaliger Außenminister, versuchten vor rund 800 Gästen, die auf Einladung der Erste Stiftung, des Instituts für die Wissenschaften vom Menschen (IWM), des Burgtheaters und des STANDARD gekommen waren, zunächst die Attentate in eine Perspektive zu rücken.
Offene Gesellschaften würden immer Bedrohungen ausgesetzt sein, deshalb sei die Zusammenarbeit mit alliierten Kräften in den unterschiedlichen Communitys wichtiger denn je. Europa stehe in diesen Stunden zusammen, in anderen Erdteilen sei das keinesfalls so, sagte Bildt: "Das, was im pakistanischen Peschawar passiert ist – Terrorismus von Muslimen gegen Muslime –, ist eine noch tragischere Ausformung als das, was wir jetzt in Paris mitangesehen haben."
Reaktion auf Überreaktion
Ivan Krastev, Präsident des Zentrums für liberale Strategien in Sofia und IWM-Fellow, warnte davor, den eigentlichen Zielen der Terroristen nachzugeben: "Sie haben siebzehn Menschen getötet und damit versucht, Debatten und das Sicherheitsgefühl vieler Menschen zu verändern." Nun sei es leichter denn je, Menschen für oder gegen eine Sache zu mobilisieren und die französische Innenpolitik zu beeinflussen. Eine Herausforderung für die europäischen Regierungen werde es sein, eine Verschärfung der Radikalisierungstendenzen zu verhindern, denn, so Krastev: "Die Terroristen wollen mit ihren Taten auch eine Verhaltensänderung bei Minderheiten hervorrufen, ihnen suggerieren: Schaut, ihr seid tatsächlich der Feind!" Die alles entscheidende Frage sei nun also, welche Reaktion auf die erste Überreaktion folge.
Diese Frage leitete dann auch zum eigentliche Thema der Diskussion – "Rückkehr der Geopolitik nach Europa" –, nämlich: Wie in Zukunft mit einem russischen Präsidenten Wladimir Putin umgehen, der die Ukraine und die EU im vergangenen Jahr mit geopolitischen Schachzügen überrascht und überrumpelt hat?
Fyodor Lukyanov, Chefredakteur von "Russia in Global Affairs", konstatierte, dass es für die "Annexion der Krim oder die Wiedervereinigung, wie wir in Russland sagen würden" durchaus Gründe, vor allem militärisch-strategische, gegeben habe, die anschließend in einer Konsolidierung der Nation und Stärkung Putins gipfelten. "Beide Länder, sowohl die Ukraine als auch Russland, sind dabei, ihre Identität zu finden und Nationen zu bilden. Das funktioniert nicht ohne Grenzen."
Die Öffnung der Grenzen innerhalb Europas würde für Putin eine große Bedrohung darstellen, analysierte Krastev. Die Antwort darauf sei aber "kein Imperialismus, sondern eine aggressive Form von Isolationismus", dessen Ziel die Stabilität Russlands sei. Der Westen mit offenen Grenzen sei dem Kreml ein warnendes Beispiel dafür gewesen, dass es keine Garantie für eine friktionsfreie Gesellschaft gebe, die sich von Demonstrationen abhalten ließe. Freie Gesellschaften wüssten damit umzugehen, Russland offenbar nicht. "Ich weiß nicht, wer die Proteste auf dem Maidan organisiert hat, aber so viel steht fest: Die CIA steht definitiv nicht hinter Occupy Wall Street", sagte Krastev, in Anspielung auf zirkulierende Verschwörungstheorien.
Unerwartete Bedrohungen
Einig war sich das von Alexandra Föderl-Schmid moderierte Panel darin, dass der Ukraine-Konflikt keinen neuen Kalten Krieg heraufbeschworen hat, sondern eine völlig neue Situation, in der alte Regeln nicht mehr gelten würden. "Es gibt unerwartete Bedrohungen, daran müssen wir uns wohl gewöhnen", fasste Palacio zusammen. Ähnlich schätzt auch Bildt die Lage ein: "Die zukünftige Ordnung wird von fundamentaler Unordnung gekennzeichnet sein." Die Europäer müssten ihre Perspektive wechseln, denn "Putin spielt das Spiel: Wer von uns lebt hier in der Realität?", so Krastev. Das beinhalte beispielsweise, dass die Europäische Union nicht mehr als universal verwirklichbares Integrationsprojekt verstanden werden könne. "Die Ordnung in Europa ist die Ausnahme", meint Krastev, der dazu aufrief, auch eine Welt zu imaginieren, in der niemand mehr der EU beitreten wolle.
In dieselbe Kerbe schlug Palacio: "Wir sollten aufhören, von der EU zu predigen." Die EU-Beitrittsländer würden derzeit zwar noch auf die profitablen Vorteile der EU, wie den Markt, schielen. Werte und Ideale spielten dabei eine immer kleinere Rolle.
"EU nahe am Abgrund"
Der Zusammenhalt der bestehenden EU-Mitglieder sei deshalb nun wichtiger denn je. "Wir sind von einem Feuerring an Konflikten umgeben, nicht von Freunden. Wir sollten verhindern, dass sich dieses Feuer noch weiter ausbreitet", forderte Bildt. Die Sanktionen wegen der Krim-Halbinsel würden wohl noch lange bestehen, alles andere würde von der zukünftigen Reaktion Russlands abhängen.
Lukyanov, der keine eindeutige Strategie des Kremls in der Ostukraine erkennen kann, warnte mit Blick auf Griechenland und Großbritannien davor, über dem Konflikt mit Russland die innereuropäischen Probleme zu vergessen: "Die EU bewegt sich gefährlich nahe am Abgrund. Und auch in der Ukraine sehen wir jetzt keine effizientere Regierung als zuvor." Russland hingegen habe mit den Sanktionen nun auch ein gutes Instrument der Rechtfertigung in der Hand, mit dem es Europa für die schlechte ökonomische Lage verantwortlich machen könne.
Sowohl Bildt als auch Krastev gaben sich überzeugt davon, dass Russland sich mit der Krim-Annexion langfristig geschadet habe. Krastev sah allerdings weiteres Gefahrenpotenzial. Ein russischer Präsident Wladimir Putin dürfe auch in der derzeitigen schwierigen Situation keine Schwäche zeigen. Damit würde er automatisch größere Risiken eingehen, die wiederum Europa unmittelbar betreffen könnten, beispielsweise im Baltikum. (Teresa Eder, DER STANDARD, 12.1.2015)