Los Angeles/ Wien - Wer am Sonntag tagsüber die Fernsehbilder von den Kundgebungen aus Paris verfolgt hatte, mit Hunderttausenden auf den Beinen, und spät nachts zur Übertragung der 72. Verleihung der Golden Globes wechselte, der sah sich mit einem eigentümlichen Paralleluniversum konfrontiert. Ein Plastikbaldachin schützte die in Abendgarderobe aufmarschierende US-Film- und Fernsehbranche vor dem schlechten Wetter in Los Angeles, und auch sonst schien die Welt intakt.
Zwar wollten aufmerksame Beobachter am Arm von Menschenrechtsanwältin und Schauspielergattin Amal Clooney auch ein "Je suis Charlie"-Abzeichen erkannt haben, im Vordergrund stand aber die Frage nach dem Designer ihrer Robe. Die moderierenden Komikerinnen Tina Fey und Amy Poehler eröffneten mit einer Anspielung auf den Sony-Hack und begrüßten die versammelten untalentierten, verwöhnten Gören.
Aber es dauerte bis zum Auftritt des Niederländers Theo Kingma, dem Präsidenten der den Preis auslobenden Hollywood Foreign Press Association (HFPA), bis die Anschläge der vergangenen Woche angesprochen und das Recht auf freie Meinungsäußerung "von Nordkorea bis Paris" bekräftigt wurde. Der frenetische Beifall, der daraufhin im Saal losbrandete, wirkte tatsächlich wie ein authentischer Befreiungsmoment.
Bei den Filmpreisen hatten am Ende die aus Texas gebürtigen Unabhängigen die Nase vorne: Wes Andersons schräg-nostalgische Tragikomödie The Grand Budapest Hotel erhielt die Auszeichnung im komischen Fach. Als herausragender Film des Abends entpuppte sich völlig zu Recht Richard Linklaters Coming-of-Age-Studie Boyhood.
Gedreht über zwölf Jahre
Die über zwölf Jahre weitergesponnene Geschichte einer Working-Class-Familie, in deren Verlauf sich die kindlichen Darsteller Ellar Coltrane und Lorelei Linklater quasi in Echtzeit vor der Kamera zu Teenagern und jungen Erwachsenen entwickeln, unterläuft im Filmgeschäft dominierende Logiken nicht nur in Bezug auf diese Produktionsform.
Die Anerkennung für Boyhood, der viele Jahresbestenlisten anführte, begann mit dem Preis für Patricia Arquette als beste Nebendarstellerin, eine bewährte Indie-Kraft, die man hierzulande vor allem mit der Mystery-Serie Medium assoziiert und die - mit Lesebrille und Spickzettel - den geerdetsten Auftritt hinlegte. Autor und Regisseur Richard Linklater, der einst unter anderem auch Matthew McConaughey "entdeckte", wurde außerdem als bester Regisseur prämiert, bevor Boyhood auch noch die höchste Auszeichnung erhielt.
Der Favorit nach Nominierungen, Alejandro Gonzaléz Iñárritus dynamisch inszenierte Backstage-Komödie Birdman, wurde fürs Drehbuch prämiert. Michael Keaton bedankte sich als bester Hauptdarsteller im Fach Komödie/Musical unter Tränen.
Im ernsten Fach wurde Eddie Redmayne für die Verkörperung von Stephen Hawking gewürdigt (Die Entdeckung der Unendlichkeit), Julianne Moore, die für Maps to The Stars und für Still Alice im Rennen war, wurde für Letzteren prämiert. Sie spielt darin eine Sprachwissenschafterin, die sich mit einer beginnenden Alzheimererkrankung konfrontiert sieht. Amy Adams machte als zweite "leading lady" des Abends in Tim Burtons Big Eyes das Rennen.
Während bei den Filmpreisen diesmal unabhängige Produktionen dominierten, war bei den TV-Preisen schon die nächste Entwicklung ablesbar: Die Kategorie entkoppelt sich produktionstechnisch weiter von den traditionellen Kanälen, es gewann etwa die von Amazon produzierte Serie Transparent den Comedypreis und den Darstellerpreis mit Jeffrey Tambor (Showtimes The Affair holte den Hauptpreis/ Drama).
Im Filmbereich gelten die Globes als Gradmesser für die Oscars: Ob sich der Sieg des russischen Dramas Leviathan von Andrej Zvyagintsev als beste fremdsprachige Produktion dort fortsetzen wird, dazu lässt sich kommenden Donnerstag Genaueres prognostizieren - da werden die Nominierungen bekanntgegeben. Die 87. Verleihung der Academy Awards findet am 22. Februar statt. (Isabella Reicher, DER STANDARD, 13.1.2015)