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Dies ist ein Archivbild von einem früheren Angriff der Miliz auf Baga vom April 2013. Aktuelle Fotos aus der Region gibt es nicht.

Foto: AP Photo / Haruna Umar file

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Orte der Boko-Haram-Angriffe im Nordosten Nigerias.

Grafik: APA

Erst langsam wird deutlich, was sich in den Städten Baga und Doron Baga im isolierten Nordosten Nigerias am Morgen des 3. Jänner zugetragen hat. Bis zu 2.000 Menschen sollen bei dem Angriff der radikalislamischen Boko-Haram-Miliz getötet worden sein, ohne dass die Weltöffentlichkeit davon Notiz nahm. Der jüngste Bericht der Menschenrechtsorganisation Amnesty International dokumentiert extreme Gewalt gegen die Zivilbevölkerung. Im Gespräch mit derStandard.at erzählt Daniel Eyre, Nigeria-Experte von Amnesty International in London, was sein Team über den Terroranschlag in Baga herausgefunden hat.

derStandard.at: Wie sind Sie bei Ihren Recherchen zu dem Massaker vorgegangen?

Eyre: Wir beobachten den Konflikt in Nordostnigeria schon seit mehr als fünf Jahren und haben dort über die Jahre ein dichtes Netz an Kontakten aufgebaut. Das sind vor allem Mitarbeiter von lokalen zivilgesellschaftlichen Organisationen, in der Region tätige Journalisten und Lokalpolitiker. Über diese Kontakte erreichen wir Augenzeugen und Opfer der Boko-Haram-Angriffe. Darüber hinaus arbeiten wir mit Satellitenaufnahmen, um die Zerstörung Bagas zu dokumentieren.

derStandard.at: Wie lassen sich die Angaben der Augenzeugen verifizieren?

Eyre: Die Angaben kommen von Augenzeugen, die uns genau schildern, was sie gesehen haben. Indem wir mit mehreren Augenzeugen sprechen, können wir uns ein Bild davon machen, wie die Angriffe vonstattengegangen sind. Individuelle Geschichten lassen sich natürlich nur schwer verifizieren.

derStandard.at: Wie ging der Angriff vorstatten?

Eyre: Laut den von uns gesammelten Augenzeugenberichten hat Boko Haram gegen 6.30 Uhr die Militärbasis außerhalb der Stadt Baga überrannt, bevor die Kämpfer mit Lastwägen, Motorrädern und gepanzerten Fahrzeugen in der Stadt selbst eingefallen sind. Dort sind sie von Haus zu Haus gegangen und haben junge Männer im wehrfähigen Alter erschossen. Andere Quellen haben uns erzählt, dass sich eine große Zahl an Boko-Haram-Kämpfern in den Büschen rund um Baga versteckt und dort auf fliehende Zivilisten geschossen hat.

derStandard.at: 8.500 Soldaten wurden vom nigerianischen Militär zum Kampf gegen Boko Haram im Nordosten abgestellt. Warum gelingt es ihnen nicht, die Terroristen zurückzuschlagen?

Eyre: Die Armee hat zwar die Rückeroberung von Baga angekündigt, in den vergangenen sechs Monaten hat Boko Haram aber schätzungsweise 20 Städte in Nordostnigeria eingenommen, und nur ganz wenige wurden bisher von der Armee zurückgewonnen. Die täglichen Angriffe von Boko Haram zeigen uns, dass die Zivilbevölkerung von der Armee nicht geschützt wird.

derStandard.at: Wie schafft es Boko Haram, den Kampf so lange aufrechtzuerhalten?

Eyre: Bei jedem Angriff auf eine Stadt plündert Boko Haram den Besitz der Opfer, sie stehlen Lebensmittel, aber auch Geld von Banken und Waffen aus Polizeistationen. In den vergangenen sechs Monaten haben sie ihre Taktik geändert und auch größere Städte angegriffen, in denen Militärstützpunkte sind, die sie überrennen und in denen sie Waffen, Munition und schweres Kriegsgerät erbeuten.

derStandard.at: Wählt Boko Haram die Opfer nach deren Religion aus, oder spielt das in dem Konflikt keine Rolle?

Eyre: Die Menschen, mit denen wir gesprochen haben, sprechen von willkürlichen Angriffen auf die Zivilbevölkerung Nordostnigerias, die zum Großteil Muslime sind. Boko Haram bezeichnet aber alle Menschen, die mit der Regierung kooperieren, als Ungläubige, egal welcher Religionsgruppe sie angehören.

derStandard.at: Wer sind die Boko-Haram-Kämpfer?

Eyre: Boko Haram rekrutiert seit vielen Jahren Kämpfer im wirtschaftlich rückständigen Nordosten, ursprünglich vor allem aus der Gruppe marginalisierter junger Männer, denen sie Geld und Waffen versprechen. Seit etwa einem Jahr beobachten wir eine starke Zunahme der Entführungen von Buben und jungen Männern, die dann zum Kampf für Boko Haram gezwungen werden. Wir haben mit Bewohnern der Stadt Gemsuri gesprochen, wo im November 2014 etwa hundert Männer entführt wurden. Die Menschen dort wurden vor die Wahl gestellt, sich entweder der Gruppe anzuschließen oder zu sterben.

derStandard.at: Welchen Rückhalt hat Boko Haram in der Bevölkerung?

Eyre: Soweit wir wissen, hat die Gruppe kaum Rückhalt. Die Zivilisten leben aber in ständiger Angst vor Angriffen durch Boko Haram, die fast täglich stattfinden. Es herrscht aber auch Angst vor dem nigerianischen Militär, das sich laut unseren Berichten schwerer Menschenrechtsverletzungen wie Folter und außergerichtlicher Hinrichtungen schuldig gemacht hat.

derStandard.at: Nigerias Regierung hat die Zahl der Opfer mit etwa 150 angegeben, Amnesty International spricht von bis zu 2.000. Wird das wahre Ausmaß des Massakers absichtlich kleingeredet?

Eyre: Ich kann nicht sagen, woher die Regierung diese Zahlen hat und warum sie diese veröffentlicht. Unsere Recherchen zeigen aber, dass die tatsächliche Zahl jedenfalls bei mehreren hundert Toten liegt.

derStandard.at: Warum erhält der Terror von Baga so wenig Aufmerksamkeit in den westlichen Medien?

Eyre: Amnesty und auch lokale Organisationen beobachten den stetigen Anstieg der Gewalttaten in der Gegend schon seit längerem. Wir glauben, dass der Konflikt, der in jüngster Zeit dramatisch eskaliert ist, jetzt langsam die Aufmerksamkeit bekommt, die er verdient. (Florian Niederndorfer, derStandard.at, 15.1.2015)