Man muss sich dieses Äußerste im Leben kein zweites Mal vergegenwärtigen: Walter Fantl war, anders als dieser Besucher im Bild, nie mehr in Auschwitz.

Foto: Gerhard Zeillinger

"Das Erwachen nach Auschwitz ist wie ein Programm, das heimlich- unheimlich Walter Fantls (unten) Leben begleitet, als würde von Zeit zu Zeit jemand auf die Wiederholungstaste drücken." Die Nummer auf seinem Arm (siehe oben) erinnert ihn täglich. Früher hat Fantl sie mit Hansaplast überklebt, wenn er im Sommer kurzärmlig ging, oder im Schwimmbad. Es hat lange gedauert, bis der Mut zur Entblößung kam.

Foto: Gerhard Zeillinger
Foto: Gerhard Zeillinger

In Auschwitz ist Walter Fantl nie mehr gewesen. Man muss sich dieses Äußerste im Leben kein zweites Mal an Ort und Stelle vergegenwärtigen, schon gar nicht, wie andere Überlebende es tun - oder vielmehr getan haben -, die jährlich am 27. Jänner, dem Tag der Befreiung, ins Lager zurückkamen, manche sogar im Sträflingsgewand. Dabei hatte Walter Fantl so lange die fixe Idee, eines Tages auf der Rampe in Birkenau das Kaddisch für seinen Vater zu sprechen, auf der Rampe hat er ihn am 29. September 1944 zum letzten Mal gesehen, als er gemeinsam mit ihm durch die Selektion ging. Aber Walters Frau hat gesagt, bitte tu dir das nicht an! Sie hat Angst gehabt, er könnte dort vor so viel Emotion, die sich auch nach all den Jahren nicht vermeiden ließe, zusammenbrechen, einen Herzinfarkt erleiden. Dann wäre er doch noch an Auschwitz gestorben.

Heute ist Walter Fantl fast einundneunzig - er hat ein gesundes Herz - und hat schon viel länger gelebt, als ihm eigentlich zugestanden wäre: Drei, vier Monate betrug die durchschnittliche Lebenserwartung eines Häftlings in Auschwitz. Genau so lange war Walter dort: vom 29. September 1944 bis zum 18. Jänner 1945, insgesamt 112 Tage, zuerst in Auschwitz-Birkenau, dann im Nebenlager Gleiwitz 1, das von den Überlebenden als noch viel schlimmer geschildert wird als Auschwitz selbst. Und man muss noch die paar Tage Todesmarsch hinzurechnen und das Warten auf die Befreiung im KZ Blechhammer - im Nachhinein betrachtet mehr ein zufälliges Überleben, wie in dieser Zeit alles zufällig war. Dann die Befreiung an einem sonnigen Tag: Der Wald um das Lager war tief verschneit, darüber der blaue Himmel.

Das Unvorstellbare

Damals war Walter einundzwanzig. Siebzig Jahre zwischen Auschwitz und heute sind eine unglaublich lange Zeit, wie ein Urteil: mit dieser Erfahrung am Leben bleiben zu müssen. Von den einstigen Kameraden lebt nur noch Leo Luster in Israel, und natürlich hat Walter auch die Täter von damals längst überlebt, zum Beispiel Otto Moll, der in Auschwitz die Sonderkommandos in den Krematorien und Gaskammern leitete und später Lagerkommandant in Gleiwitz war. "Ich höre ihn heute noch, wie er uns auf dem Appellplatz angebrüllt hat: Glaubt ja nicht, dass ihr in Freiheit geht! Bevor die Russen kommen, mach ich euch alle kalt!"

Die Freiheit war damals unvorstellbar, so wie das Erzählen von Auschwitz später für Walter lange undenkbar war. Als einmal die deutsche ARD um ein Interview bei ihm anfragte, lehnte er noch ab, als gehörte es sich nicht, davon zu reden, dass er überlebt hat, während die anderen es nicht geschafft haben. Einige Jahre später hat er es doch getan.

Das war 1997. Mitarbeiter von Steven Spielbergs Shoah Foundation leuchten das Wohnzimmer aus, und Walter, so ruhig und entspannt, wie ich es von ihm nicht gewohnt bin, sitzt da, als hätte er sein ganzes Leben nur darauf gewartet.

In demselben Wohnzimmer sitze ich mit ihm fünfzehn Jahre später, wir sitzen vor dem Videorecorder und sehen uns die Aufnahme an. Jahrelang hat Walter davon gesprochen: Wir müssen uns das ansehen! Und es jahrelang hinausgeschoben. Es ist ein langer Vormittag, zwei Stunden dauert allein das erste Band. Als es zu Ende ist, habe ich fast Angst, es könnte ihm zu viel werden.

"Sollen wir ein andermal fortsetzen?", frage ich. Aber Walter tut, als würde er mich nicht hören. "Und, wie gefällt es dir?", fragt er beim Wechseln der Bänder. Nachher war mir klar, er wollte das unbedingt mit mir zu Ende sehen, als ließe sich damit auch die Sache zu Ende bringen. Aber so einfach ist das nicht mit der Erinnerung.

Walter Fantls Biografie ist einprägsam und übersichtlich: Mit sechzehn musste er seinen Heimatort Bischofstetten in Niederösterreich verlassen, mit achtzehn kam er nach Theresienstadt, mit zwanzig nach Auschwitz. Hat als Einziger seiner Familie überlebt. Hat 1945 sein Leben noch einmal von vorne begonnen.

Als ich im Herbst 2001 das erste Mal auf ihn treffe, macht er auf mich den Eindruck, er habe den Holocaust nur aus der Distanz erlebt, wäre irgendwo in England oder Amerika gesessen und dann heil nach Wien zurückgekehrt. Ich weiß noch, ich fragte ganz beiläufig, wo seine Familie in der Emigration war. An diesem Tag hat er mir von der Ankunft in Auschwitz-Birkenau erzählt, wie er mit seinem Vater über die Rampe ging, wie Mengele auf einem Stuhl saß und einfach so mit der Hand winkte, eigentlich nicht mit der Hand, es war mehr eine lässige Bewegung mit dem Daumen. Links, rechts, links ...

War das wirklich Mengele, habe ich mich gefragt. Später habe ich recherchiert: Er hatte tatsächlich an diesem Tag Rampendienst. Er hat nicht viel geredet. Nur: Wie alt? Beruf? Und dann deutete er auf die eine oder die andere Seite.

Walters Vater, damals dreiundfünfzig, kam nach rechts. Walter selbst, der nichts von der Situation begriff, stellte die, man muss sagen, unerhörte Frage: Darf ich auch mit meinem Vater? Aber da wurde er schon weitergeschoben, auf die linke Seite, der Seite des Lebens, ohne dass ihm das bewusst war. Jahre später frage ich ihn: Wärst du wirklich auf die rechte Seite gegangen? An diesem 29. September, es war schon dunkel, gingen 2500 Männer über die Rampe, drei Viertel wurden sofort in die Gaskammern geschickt. Walter denkt nicht lange nach. "Ich wäre mit meinem Vater überallhin gegangen", sagt er so entschieden, wie er damals ahnungslos war.

Und wann hat er gewusst, was "rechts" bedeutete? Wann hat er erfahren, was mit denen auf der rechten Seite geschah?

"Siehst du den Schornstein dort?", hat zwei, drei Stunden später ein Kapo zu Walter gesagt. "Siehst du den Rauch? Das ist dein Vater. Das sind die anderen."

Ich frage Walter, was er in diesem Augenblick empfunden hat, weil ich mir nicht vorstellen kann, was da in einem vorgeht. "Nichts", sagt er, "da war kein Gefühl." Keine Trauer, kein Schmerz, keine Angst. "Ich war stumpf bis in die Knochen."

Vielleicht geht es sich aus

Drei Tage später wurde Walter tätowiert und kam nach Gleiwitz ins Reichsbahnausbesserungswerk, das heißt, ins Lager Gleiwitz 1. In Tag- und Nachtschichten werden die Häftlinge in die Werkshallen geführt. Wenn sie ins Lager zurückkommen, macht die SS jedes Mal ihre Spielchen mit ihnen, die Wachposten suchen sich einen aus, der am Rand geht oder am Schluss, reißen ihm die Mütze vom Kopf und werfen sie über den Sperrbereich in die "neutrale Zone". Der Häftling weiß, wenn er ohne Mütze in die Baracke zurückkommt, wird er vom Kapo zu Tode geprügelt. Betritt er aber die Zone, um die Mütze zu holen, wird er von den Wachposten "auf der Flucht" erschossen.

"Es hat jeden Tag Tote gegeben", sagt Walter. Aber hingesehen hat er nie, er hat immer zu Boden geblickt, wenn Schüsse fielen. Nur die Leichen hat er nachher gesehen, hat sie ansehen müssen. Die SS hat die Toten am Lagertor postiert, die Lagerkapelle hat gespielt, und Walter musste mit seinen Kameraden an ihnen vorbeimarschieren, in der Früh, am Abend.

Hat man da nicht gedacht, man könnte morgen der Nächste sein? "Man hat immer nur geschaut, dass man in der Kolonne nicht außen geht, nicht als Letzter. In der Mitte war man am sichersten." Und: "Wir waren jung", sagt Walter. "In den zwei Jahren in Theresienstadt haben wir uns gesagt: Das kann man irgendwie überstehen. Und in Gleiwitz haben wir uns gesagt: Vielleicht geht es sich aus. Wir wussten ungefähr, wo die Front steht, dass der Krieg bald zu Ende sein muss. Erst im Nachhinein habe ich begriffen, wie knapp das alles war."

Am 18. Jänner, um ein Uhr früh, beginnt in Auschwitz die Evakuierung, mehrere Häftlingskolonnen verlassen in Abständen das Lager. In Gleiwitz, von Auschwitz ungefähr 60 Kilometer entfernt, ist am Abend davor der letzte Appell abgehalten worden, 1336 Häftlinge werden gezählt. Zwischen drei und vier Uhr früh marschieren sie los. Vorher gibt es noch eine Selektion. Die Kranken, Geschwächten, nicht mehr Gehfähigen werden ausgesondert und hinter den Baracken erschossen. Die anderen erhalten jeweils einen halben Laib Brot und etwas Margarine, Ration für drei Tage.

Zu diesem Zeitpunkt ist Walter bereits selbst ein "Muselmann" (Lagerjargon für völlig abgemagerte Häftlinge, Anm.), wiegt nur noch 37 Kilo. Und er hat eine eitrige Entzündung an der Fußsohle, jeder Schritt auf dem Todesmarsch ist eine Qual. Dabei ist genau dieses Wort, nach allem, was er bis dahin erlebt hat, so nichtssagend und widersinnig. Sagen wir, die Qual wird zur Überlebensfrage, um dem Wort doch ein Gewicht zu geben.

Denn wer auf diesem Marsch nicht Schritt halten kann, wird von den SS-Wachen erschossen oder von den Kapos erschlagen. Immer wieder hört Walter Schüsse, einmal vorne, dann irgendwo hinten, es ist eine scheinbar endlose Kolonne, die bei minus 20 Grad und eisigem Wind durch den gefrorenen Schnee stapft. Und irgendwann erlebt auch er den Augenblick, in dem er spürt, jetzt geht es nicht mehr, und gleichzeitig weiß, dass er erschossen wird, wenn er sich niedersetzt oder nur stehenbleibt.

Ist jetzt alles vorbei?

Aber war das wirklich ein bewusster Gedanke? Wie viel erlebt man davon real? Heute kann sich Walter nicht mehr erinnern, wer die beiden Kameraden waren, die ihn sofort in ihre Mitte nahmen und bis nach Blechhammer schleppten - und dabei selbst ihre Kräfte und damit ihr Leben riskierten. Das war am dritten Tag.

Blechhammer, von wo es nur noch zehn Kilometer bis zur Oder sind, ein Lager hauptsächlich für Kriegsgefangene, ist nur eine Station auf dem Todesmarsch, der die Häftlinge weiter nach Groß-Rosen und von dort nach Buchenwald und Sachsenhausen bringen soll. Als sie das Lager in der Nacht erreichen, herrschen chaotische Zustände, die Baracken sind überfüllt, zahlreiche Typhusfälle, die SS ist nervös, kaum noch Herr der Lage.

Am nächsten Morgen gehört Walter zu jener Gruppe, die beschließt, im Lager zu bleiben, nicht mit den anderen weiterzugehen. Es bleibt ihm gar nichts anderes übrig: "Ich konnte ja nicht einmal aufstehen. Und plötzlich hat es geheißen: Ihr seid frei, ihr könnt die Baracken verlassen. Und die, die das geglaubt haben, sind draußen von den Gewehrsalven der SS niedergemäht worden."

Dann wird es ruhig im Lager: Ist jetzt alles vorbei, kommen schon die Russen? Und plötzlich ist wieder SS da und zündet einige der Baracken an, auch die, in der Walter auf seiner Pritsche liegt. Schüsse fallen durchs Fenster, der Kamerad unter ihm wird getroffen.

Auch bei der Befreiung wenige Tage später ist Walter noch nicht auf den Beinen. Er ist völlig ausgezehrt, sein Überleben nicht gerettet, aber er glaubt daran. Das Leben hat wieder eine Perspektive. Er hat auch geglaubt, seine Mutter, seine Schwester wiederzusehen. "Ich hab das so fest geglaubt." Erst in Theresienstadt, wohin er im Juni 1945 zurückkehrte, erfuhr er, dass auch sie nach Auschwitz deportiert worden waren, elf Tage nach ihm und dem Vater.

"Dass ich überlebt habe", sagt Walter heute, "war purer Zufall. Mehr nicht."

Was von allem blieb, von dem Schock, der Angst, dem Hunger, den Schmerzen und am Ende der Gewissheit, dass keiner von der Familie überlebt hat und er nun ganz allein sein Weiterleben bestimmen muss, ist die mit blauer Tinte in den linken Unterarm geschriebene Häftlingsnummer. Sie wird mit der Zeit blasser, verzerrter, aber sie bleibt erkennbar, bis heute. Und natürlich die Erinnerung, das Gedächtnis, aus dem das Erlebte genauso wenig zu löschen ist. Sie ist immer noch in seinem Kopf, nicht mehr so deutlich und genau, aber sie ist da. Noch heute kommt es vor, dass Walter wieder im Zug sitzt, unterwegs im Viehwaggon nach Auschwitz. Es ist finster und eng und so beklemmend, dass er meint, es schnürt ihm etwas die Luft ab. Auch früher hat er nie vom Lager geträumt, sondern immer nur vom Transport, es ist jedes Mal der gleiche Alptraum, aus dem er schweißgebadet erwacht. Er lässt sich auch nach siebzig Jahren nicht abschütteln. Das Erwachen nach Auschwitz ist wie ein Programm, das heimlich-unheimlich sein Leben begleitet, als würde von Zeit zu Zeit jemand auf die Wiederholungstaste drücken. So wie die Nummer auf seinem Arm ihn täglich erinnert.

Ich habe zwei Leben gehabt

Früher hat Walter sie mit Hansaplast überklebt, wenn er im Sommer kurzärmlig ging, oder im Schwimmbad. Es hat lange gedauert, bis der Mut zur Entblößung kam. Ich weiß nicht mehr, in welcher Schule es war, als Walter, der vor fünfzehn Jahren anfing, als Zeitzeuge vom Holocaust zu erzählen, am Ende seines Vortrags plötzlich den Ärmel hochkrempelte und die Nummer zeigte. Von da an machte er es vor jeder Klasse, und manchmal haben die Schüler gefragt, ob sie sie wirklich ansehen dürften. Sie zögerten, blieben ein, zwei Meter davor stehen, und Walter musste sie ermuntern, kommt ruhig her, ist ganz ungefährlich!

Einmal, in einer Hauptschule auf dem Land, hat am Ende, als Einzige, ein elfjähriges Mädchen aufgezeigt. Sie wollte wissen, ob die Tätowierung - das Tattoo - echt ist oder nur aufgeklebt. Die Frage hat mich nicht erstaunt. Aus ihrer Sicht muss alles ganz anders sein, die Frage erscheint verständlich angesichts dessen, was Kinder bewegt: ob alles wirklich ist, ob das wirklich wehtut, wehgetan hat.

Heute frage ich mich, ob die Rolle als Zeitzeuge etwas bewirkt hat, ob Auschwitz nach siebzig Jahren die Jungen überhaupt noch etwas angehen muss, aber das zu beurteilen ist wohl noch zu früh. Walter, der sich so lange gescheut hat, darüber zu sprechen, war immer von der Wichtigkeit dieser Aufgabe überzeugt. "Sonst erfahren sie ja gar nichts." Und: "Ich habe zwei Leben gehabt, eines vor Auschwitz und eines danach."

Manchmal haben ihm die Schüler nachher nette Briefe geschrieben, ihm Fotos geschickt. Von der Embelschule, einer Kooperativen Mittelschule in Wien, in die Schüler aus verschiedensten Migrantenfamilien gehen, hat Walter sogar ein eigenes Erinnerungsalbum, in das sich alle eingetragen haben. Selda zum Beispiel hat geschrieben: "Es war sehr interessant. Herr Fantl hat sehr viel über sein Leben erzählt. Wenn er stirbt, wird er sehr Schönes und sehr Schlechtes hinter sich lassen. Selda, 16, aus der Türkei (geboren in Wien)."

Voriges Jahr hat Walter aufgehört, in Schulen zu gehen. "Jetzt ist genug", hat er gesagt. "Jetzt muss das hinter mir zurückbleiben." (Gerhard Zeillinger, Album, DER STANDARD, 17./18.1.2015)