Florencia Coelho: "In Europa bekommt jemand mehr Geld, der es nicht sollte, aber hier funktionieren Züge nicht, Nahrungsmittel kommen nicht in ärmere Gegenden, und Kinder sterben an Unterernährung. Journalismus kann hier Leben retten."

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derStandard.at: Was macht man als "new media evangelist" in Argentinien?

Florencia Coelho: Ich habe 2006 angefangen, bei "La Nación" zu arbeiten. Meine Aufgabe ist es, der Redaktion zu helfen, digitalen Journalismus zu machen.

Obwohl "La Nacion" schon seit Dezember 1995 eine Online-Ausgabe hat, haben wir eine sehr traditionelle, auf die gedruckte Zeitung fokussierte Redaktion. Verständlich, denn die Zeitung hat eine 140-jährige Geschichte. Die Journalisten fühlten sich sehr wohl mit der Papierausgabe.

Es war eine Herausforderung, sie dazu zu bringen, digitalen Journalismus zu akzeptieren. Wir haben viele interne Fortbildungen organisiert, sie ermutigt, Blogs zu führen oder Soziale Medien wie Twitter zu nutzen. Mithilfe der Chefredakteure haben wir unter der Marke "La Nación" verschiedene gebrandete Kanäle für die einzelnen Sektionen erstellt, von Sport über Mode bis zu Sicherheits- oder Finanzpolitik.

Im Jahr 2008 entdeckte ich durch den "Guardian" und die "Los Angeles Times" den Datenjournalismus und wusste: Das sind die Geschichten, die wir haben wollen. Der "Guardian" hatte die Ausgaben der Abgeordneten visualisiert – das wollte ich auch für den argentinischen Senat haben.

Seit damals liegt mein Fokus stark auf dem Aufbau des Datenjournalismus-Teams von "La Nación". Ich mache jedoch nicht nur Fortbildungen, bei denen ich mich um alles von der Logistik bis zum Inhalt kümmere. Ich bewege mich eigentlich von der Strategin bis zur Assistentin durch alles, was man in einer Zeitung machen kann.

derStandard.at: Fangen wir mit der Umstellung von einer Zeitung zu einem Online-Medium an. Wie unterscheiden sich Ihrer Meinung nach Online-Journalismus und klassischer Zeitungsjournalismus?

Florencia Coelho: Ich war zehn Jahre lang Anwältin. Als ich 1996 das Internet entdeckte, war ich begeistert. Es war so eine fantastische Möglichkeit, mit anderen zu kommunizieren und interessante Dinge zu entdecken. Ich habe mich sofort verliebt. Ich glaube, online kann Journalismus richtig in die Tiefe gehen: mit Links und weiterführenden Inhalten. Es ist nicht kurz und bündig, es darf richtig ausführlich sein.

Im Gegensatz zur gedruckten Zeitung können Online-Inhalte auch noch viel später über Google wiederentdeckt werden. Dieser "long-tail content" kann neue Leser erreichen. Der Aufwand, der in einen Artikel gesteckt wird, überlebt die Ein-Tages Ausgabe der Zeitung. Das ist einer der Punkte, mit denen ich versuche, Journalisten Online schmackhaft zu machen.

Eine andere Herausforderung ist es, Journalisten zu helfen, ihre Artikel zu vermarkten. Sie zögern oft, ihre Artikel auf Twitter zu teilen. Aber viele Menschen auf Twitter kaufen die Zeitung nicht oder schauen nicht auf unsere Startseite. Sie folgen den Autoren, die sie schätzen. Sie sagen damit: "Ich weiß nicht, wann Artikel von dir veröffentlicht werden, aber wenn du etwas geschrieben hast, will ich es wissen."

derStandard.at: Viele der größten Online-Medien sind Zeitungen mit einer Webseite. Ändert sich dieser Fokus auf den geschriebenen Artikel durch mehr Videos oder interaktive Inhalte?

Florencia Coelho: Online können wir natürlich mehr als Text anbieten. Es ist jedoch eine Herausforderung, Journalisten daran zu gewöhnen, dass sie Links oder Inhalte wie zum Beispiel eine Karte einbinden. Mit unseren Datenprojekten haben wir angefangen, viele interaktive Grafiken einzubetten. Wir zeigen in unseren Artikeln nicht nur die Daten, sondern erlauben unseren Lesern, sie als Excel oder CSV herunterzuladen.

Wir zeigen Originaldokumente, die wir von offiziellen Webseiten gescrapet haben. Das gibt uns mehr Glaubwürdigkeit bei unseren Lesern. Wir zeigen damit: Das sind Informationen, die öffentlich im Amtsblatt oder auf einer Regierungsseite vorhanden sind. Das kommt nicht aus geheimen Quellen oder von Whistleblowern.

Wir würden hier auch gern mehr Videos verwenden, um Inhalte besser über Facebook, Youtube oder Instagram verbreiten zu können. Aber obwohl wir in einer großen Zeitung arbeiten, sind wir ein kleines Team – manchmal fehlt einfach die Zeit.

In Argentinien müssen wir viele Daten aus Dokumenten befreien, bei denen die Computererkennung versagt. Zum Beispiel Scans von handgeschriebenen Dokumenten oder mit Stempeln. Wir haben auch kein brauchbares Auskunftsrecht in Argentinien. Also dauert es lange, um Daten in ein Format zu bringen, mit dem wir arbeiten können. Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Präsentation dann zu kurz kommt, weil wir schon so übersättigt sind, wenn wir die Daten aufbereitet und analysiert haben.

Obwohl Artikel, die wir schreiben, in der Zeitung sehr gut ankommen, macht die Online-Präsentation vieles besser. Die Preise, die wir gewonnen haben, helfen uns dabei, zu zeigen, was wir erreichen können. Oft kommen dann Journalisten zu uns, mit denen wir noch nie gearbeitet haben, und sagen: "Ich will was Ähnliches tun." Das hilft uns, die Skeptiker im Newsroom zu überzeugen, die oft nicht verstehen, warum wir so viel Zeit in einen Artikel investieren.

derStandard.at: Wie gehen Sie in Argentinien mit dem mobilen Trend um?

Florencia Coelho: Wir probieren, mehr auf responsives Design zu setzen, damit unsere Webseiten auf Smartphones gut angezeigt werden. Wir untersuchen auch, wie wir Apps verwenden können. Ehrlich gesagt sind wir aber noch ziemliche Anfänger.

Wir versuchen auch, unsere interaktiven Applikationen responsiv zu designen. Aber manchmal sind Smartphones einfach zu limitiert. Für manche Dinge ist ein Telefon nicht geeignet: Zum Beispiel unser Projekt Vozdata, mit dem wir Dateneingaben crowdsourcen – wir haben wie der "Guardian" mit Ausgaben von Senatsmitgliedern angefangen.

Wir konnten die Formulare nicht gut in Text umwandeln und haben Freiwillige gesucht, die uns helfen, die Formulare zu transkribieren. Fast 900 unserer Leser haben dann für das Projekt gearbeitet. Einige haben über 1000 Seiten bearbeitet. Für das Projekt selbst, die Transkription, ist es sehr schwer, eine App zu entwickeln. Ein Smartphone-Display ist einfach zu klein dafür.

derStandard.at: Worin, denken Sie, unterscheidet sich Journalismus in Europa von Journalismus in Lateinamerika?

Florencia Coelho: Nun, ich denke, wir haben hier noch einige Herausforderungen, wenn ich an Regierungen denke. Europa ist weiter, wenn es um Transparenz und Demokratie geht.

Zum Beispiel: Hier bringt Korruption Menschen um. Ich denke nicht, dass das in Europa der Fall ist. In Europa bekommt jemand mehr Geld, der es nicht sollte, aber hier funktionieren Züge nicht, Nahrungsmittel kommen nicht in ärmere Gegenden, und Kinder sterben an Unterernährung. Journalismus kann hier Leben retten.

Wir haben auch einige Herausforderungen: Wir haben keine Gesetze für Auskunftspflicht. Ein paar Länder wie Mexiko, Uruguay oder Chile haben diese, in anderen Ländern müssen wir hier noch viel Arbeit leisten. Internetverbindungen sind noch immer ein Problem.

In Österreich hat man vielleicht in ein paar Bergtälern kaum Empfang, aber hier sind es große Teile des Landes, in denen keine Breitbandverbindung möglich ist. Dadurch wird es schwer, alle zu informieren.

In Europa mögen Dinge einfacher sein – was uns bei "La Nación" aber leidenschaftlich macht, ist, dass wir glauben, wir retten mit unserer Arbeit Leben und machen unser Land besser. Datenjournalismus gibt uns fantastische Möglichkeiten und erlaubt unseren Lesern, ihre eigenen Schlüsse zu ziehen. Wir wollen guten Journalismus, weil wir das Gefühl haben, dass unser Land viele Chancen vergibt.

Der Standard: Wohin wird sich Online-Journalismus in den nächsten 20 Jahren entwickeln? Wie werden sich Medien verändern?

Florencia Coelho: Seit ich 2006 zu "La Nación" gekommen bin, habe ich gesehen, wie Facebook, Twitter und Datenjournalismus groß geworden sind. Ich weiß nicht, was als Nächstes kommt. Ich werde mich immer mit neuen Formen von Journalismus beschäftigen, ob das nun transmedialer Journalismus ist oder immersiver Journalismus anhand von Augmented Reality.

Ich bin kein Guru, aber ich bleibe an aktuellen Entwicklungen dran. Ich würde es toll finden, wenn "La Nación" in 140 Jahren noch relevant ist. Dafür müssen wir bescheiden sein und uns schnell anpassen. Wir müssen wissen, wo unsere Leser sind. Viele sind im Moment auf Instagram, und einige Kanäle funktionieren dort sehr gut, andere nicht. Ein Zeichen, dass Menschen sich von Facebook wegbewegen, ist, dass der Social-Media-Gigant andere populäre Dienste wie WhatsApp oder Instagram gekauft hat. Wir müssen uns nun fragen: Sollen wir versuchen, WhatsApp zu integrieren? Wie kann Journalismus auf Instagram funktionieren? Wie können wir diese Dienste für "La Nación" nutzen?

Ich habe in den letzten zehn Jahren so viele Neuerungen gesehen, dass ich die nächsten 20 Jahre unmöglich vorhersehen kann. Aber wenn dich die Menschen noch immer schätzen und dir vertrauen, werden sie ihre Informationen von dir beziehen. Wie? Wahrscheinlich wird es nicht über die gedruckte Zeitung oder die Webseite sein. Die große Herausforderung für unsere Zukunft ist, wie wir unsere Leser erreichen. (Michael Bauer, derStandard.at, 26.1.2015)