Video: Joshua Benton über die Beziehung zwischen Medien und Usern.

Nieman Journalism Lab

derStandard.at: Das Nieman Lab ist ständig auf der Suche nach Innovationen im Netz – Was wird das nächste große Ding?

Benton: Das aktuell größte Ding ist sicher der Übergang vom Desktop auf mobile Endgeräte. Aber solange es Menschen gibt, die ihren Arbeitstag damit verbringen, auf ihren Schreibtischsesseln vor ihren Computern zu sitzen, wird der Desktop nicht tot sein und weiter signifikant bleiben. Aber es gibt viele Zeiten, zu denen Menschen, die dem traditionellen Büro-Arbeitsmuster entsprechen, nicht vor ihren Bildschirmen sitzen. Die mobile Nutzung steigt rasant. Das wird sich weiter fortsetzen. Dieser starke Wandel des Nutzerverhaltens in Richtung mobiler Endgeräte ist fast so extrem wie der damalige Wechsel zum Web.

Manche behaupten, das nächste große Ding sind Wearables wie Google Glass oder iWatch. Ich bin nicht so überzeugt davon, dass es sich hier um eine Revolution handelt. Hier gilt es noch abzuwarten.

Ein großer Wandel zeichnet sich auch darin ab, wie Leser ihre Nachrichten bekommen. Vor dem Internet hatte man eine bestimmte Anzahl von Zeitungen oder TV-Sendern, die man nutzte. Mit dem Netz hatte man plötzlich eine sehr viel größere Auswahl. Man entschied sich aber entweder für diese News-Seite oder diesen Blog oder diesen TV-Sender im Netz. Noch immer ist es so, dass die Entscheidung, welche Nachrichten man konsumiert, sehr davon beeinflusst ist, welche Medienmarke man aussucht.

Social Media hat das komplett verändert. Einzelne Artikel leben jetzt in diesem dekontextualisierten Informationsfluss, ob nun auf Facebook, Twitter oder sonst wo. Das heißt, dass jeder Autor mehr um seine eigenes Publikum kämpfen muss. Sprichwörtlich um sein eigenes Leben im sozialen Netz.

Genauso wie auf Social Media gehen die User von Smartphones immer weniger auf Startseiten von spezifischen Medien, sondern auf Facebook, WhatsApp oder Twitter, um zu sehen, was ihre Freunde gerade geteilt haben. Das wird sich sehr stark auf die Workflows von Medien auswirken.

derStandard.at: Denken Sie, dass sich die stärkere Mobilnutzung auch auf die Art des Storytellings, der Erzählweise von Artikeln, auswirken wird?

Benton: Ich denke, dass durch die stärke Smartphone-Nutzung kompaktere, persönlichere Artikel wichtiger werden. Sie werden aber auch weiterhin immersiv sein. Auch ein mobiler Text wird entweder nur Text, nur Audio oder Video oder eine Kombination davon sein. Was zunehmen wird, ist die Unterbrechung, die Benachrichtigung des Nutzers, der informiert wird, dass es eine neue Geschichte gibt. Und die Integration in sozialen Netzwerken wird noch wichtiger, als sie es jetzt schon ist.

derStandard.at: Immer mehr Online-Medien machen Features mit multimedialen Inhalten. Ist "Snow Fall" bereits Mainstream?

Benton: Wenn man bedenkt, wie bombastisch "Snow Fall" 2012 noch war und dass heute pro Tag schon ungefähr 30 Produktionen mit einem ähnlichen Anspruch weltweit online gehen, dann sind derartige Features vielleicht tatsächlich schon Mainstream geworden. Was früher ein riesiger technologischer Aufwand war, geht heute schon ziemlich flott von der Hand.

derStandard.at: Sind manche Geschichten schon zu viel mit multimedialen Inhalten aufgeladen?

Benton: Manchmal schon. Es ist schon auch eine Frage, wie viele User die Geschichten auch lesen.

derStandard.at: Haben Sie den Text von "Snow Fall" jemals ganz gelesen?

Benton: (lacht) Nein, ich muss zugeben, das habe ich nie. Aber mich hat nicht die tolle Aufbereitung davon abgehalten, sondern mich interessiert einfach keine 40.000-Zeichen-Geschichte über eine Lawine.

Diese sehr langen Texte hatten aber immer schon das Problem, dass man User dazu bringen musste, sie bis zum Ende zu lesen. Das ist kein neues Problem. Das neue Problem ist, dass in manchen Fällen durch zu viel Schnickschnack das Lesevergnügen verlorengeht.

derStandard.at: Es gibt einige Medien wie "Buzzfeed" oder "Huffington Post", die sogenannte Listicles zum Trend gemacht haben. Werden uns diese Hitparaden weiterhin begleiten?

Benton: Grundsätzlich haben "Buzzfeed" und Co diese Listen ja nicht erfunden, sondern es gibt sie schon lange Zeit. Aber sie haben Wege gefunden, diese Art der Darstellung zu optimieren. Man merkt nun auch schon, dass einige dieser Listenmedien wieder stärker davon abkommen und unterschiedlichere Content-Arten produzieren. Listicles werden also nicht ganz verschwinden, gleichzeitig aber auch nicht die einzige Information sein, die verfügbar ist.

Der Grund, warum Listicles funktionieren, ist, dass sie komplexe Informationen in kleinen, leicht konsumierbaren Häppchen präsentieren. Da ist nichts Falsches dran. Es gibt keinen Grund dafür, dass Geschichten in einer komplizierten Form erzählt werden müssen. Wenn man es schafft, dass man User dazu bringt, wichtige Informationen auch zu lesen, wenn man sie in acht Punkten darstellt, ist das doch großartig.

derStandard.at: Wie wird sich der Bereich Datenjournalismus entwickeln?

Benton: Da verhält es sich ähnlich wie bei "Snow Fall". Datenjournalismus war vor einigen Jahren noch auf große, ambitionierte Projekte beschränkt. Jetzt werden manche Tools schon täglich oder sogar stündlich verwendet. Auch hier ist es so, dass es in manchen Fällen wirklich tolle Ergebnisse gibt, in machen es aber das falsche Werkzeug ist.

Jedenfalls: Wenn ich ein junger Journalist wäre, der eine Jobgarantie für die nächsten 20 oder 30 Jahre haben will, dann würde ich mich jetzt stark mit Datenjournalismus beschäftigen. Aus dem einfachen Grund, weil die enormen Datenmengen, die es jetzt schon gibt, sicherlich nicht weniger, sondern noch viel mehr werden. Es wird also eine ständig steigende Nachfrage nach Experten geben, die Daten verständlich darstellen können.

derStandard.at: Wie sehen Sie die Verbindung zwischen User Generated Content und Journalismus?

Benton: Ich denke, dass Medienhäuser ihre Leser respektvoll behandeln sollten. Diese Leute da draußen haben schließlich eine Menge zu bieten. Ich glaube auch, dass die Frage, wie man Journalismus und User Generated Content verknüpft, schon fast veraltet ist, weil das Web zum Großteil aus User Generated Content besteht. Social Media hat für diesen enormen Übergang der menschlichen Kommunikation auf die digitalen Plattformen gesorgt. Medien werden nun weiter tun müssen, was sie schon immer getan haben: bessere Methoden zu finden, um die menschliche Kommunikation zu screenen. Und wenn man etwas Spannendes findet, sollte man einen Weg finden, diese Information zu nutzen, um aufregende Geschichten zu erzählen.

Zusätzlich sollte man sein Publikum aktiv dazu aufrufen, sich an der Entstehung von Artikeln, an der Recherche zu beteiligen. Dazu gibt es ja schon viele Beispiele, wie über Crowdsourcing Information gesammelt werden kann. Es gab erfolgreiche und totale Flops. Ich denke, hier geht es neben der journalistischen Frage auch um eine psychologische: Was ist der richtige Weg, um Menschen zu motivieren, ihren Beitrag zu leisten?

Wenn man für ein Medienhaus im Jahr 2015 arbeitet, dann muss man sehr offen für die Tatsache sein, dass es nicht mehr so ist, dass nur Journalisten etwas Interessantes zu sagen haben.

derStandard.at: Denken Sie, dass Postings den Journalismus besser gemacht haben oder schlechter?

Benton: Aus einer sehr eingeschränkten Sichtweise waren Postings natürlich schlecht für das Nachrichtengeschäft, weil es quasi ein Monopol für Informationen gab. Damit konnte man schließlich auch sehr gut verdienen. Jetzt ist uns jedoch bewusst, wie viele unterschiedliche Stimmen und Sichtweisen es da draußen gibt. Wenn man als Journalist aus diesem Pool keine Vorteile zieht, dann macht man einen schlechten Job.

derStanard.at: Wie beurteilen Sie die Problematik von Shitstorms?

Benton: Schwierige Frage. In den USA hatte sich der Journalismus stark in die Richtung entwickelt, dass man eine sehr polierte, fast klösterliche Sprache verwendet hatte. Es war verpönt, zu pointiert zu schreiben. Ich finde es nicht schlecht, dass es jetzt durch den Rückkanal ein wenig mehr Energie hineinkommt. Natürlich muss man sich damit auseinandersetzen, wie man den Kommentarbereich sorgfältig moderiert. Aber ich trauere der Zeit, als der Leserbrief die einzige Möglichkeit war, seine Meinung mit der Redaktion zu teilen, nicht wirklich nach.

derStandard.at: Kommen wir zur Frage, die sich alle stellen: Was ist der beste Weg, um mit Online-Journalismus Geld zu verdienen?

Benton: Es gibt viele Wege. Der beste: Man produziert Information, die von hohem qualitativem Wert ist, wofür die Leser bereit sind zu zahlen. Das bedeutet gleichzeitig, dass die Arbeit der Journalisten für das Publikum wertvoller wird.

Aber das ist nicht der einzige Weg. Ein Großteil des Online-Journalismus wird weiterhin anders finanziert werden. Bei der Finanzierung durch Werbung geht es immer mehr in Richtung Native Advertising und Videowerbung. Es gibt viele Leute, die eine Möglichkeit sehen, sich ein Stück vom sehr profitablen TV-Geschäftskuchen abzuschneiden.

Aber ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass es die eine Antwort auf die Frage gäbe, wie man Journalismus online finanziert, auch wenn es bereits erfolgreiche Beispiele gibt.

derStandard.at: Glauben Sie, dass die Bereitschaft, für Online-Medien zu zahlen, steigen wird?

Benton: In den vergangenen zehn Jahren haben wir eine steigende Bereitschaft miterlebt, über das Internet Dinge zu kaufen und zu bezahlen. Früher war man da viel skeptischer. Die nächste Stufe wäre eine einfachere, komfortable Variante, über mobile Endgeräte zahlen zu können. Vorläufig muss man zumeist immer noch die Kreditkartennummer eingeben. Erst wenn es hier eine wesentliche Vereinfachung gibt, wird sich etwas ändern.

Grundsätzlich glaube ich aber nicht, dass diese Bezahlmethoden mit dem Wunsch der Bürger, für Journalismus Geld auszugeben, in direktem Zusammenhang stehen. In der Mehrheit der westlichen Staaten wird man in Zukunft noch sehr viel mehr freien Journalismus erleben. Und für die Mehrheit der Menschen in diesen Staaten wird die kostenlose Alternative in Ordnung sein. Aber es wird auch Nachrichtenkonsumenten geben, die für hochqualitative Produkte zahlen werden. Das wird jedoch nur ein vergleichsweise geringer Anteil sein.

derStandard.at: Wird der bezahlte Journalismus auch der bessere sein?

Benton: Es gibt heute kostenlosen TV-Journalismus und Radiojournalismus, der für viele frei zugänglich ist. Zeitungen kosten Geld. Ich denke, dass der Unterschied zwischen bezahlten Inhalten und Gratisinhalten verschwommen bleibt. Wenn man heute auf die Seite der "New York Times" geht, ist sie gratis, auch noch beim zweiten Mal. Danach muss man jedoch zahlen.

derStandard.at: Was ist der Unterschied zwischen Online-Medien in Europa und USA?

Benton: Der erste große Unterschied ist das Ausmaß der Verbreitung der Sprache. In den USA sehen viele Investoren eine Chance darin, auch kleinere Medien zu unterstützen, weil es 300 Millionen von uns gibt und zusätzlich eine riesige weltweite englischsprachige Community. Wenn man auf Schwedisch publiziert, dann wird die potenzielle Leserschaft natürlich signifikant reduziert. Der Vorteil ist aber, dass man in kleineren Sprachräumen die jeweiligen lokalen Medien schützt.

Was die Qualität der Online-Medien betrifft, so holt Europa im Vergleich zu den Vorreitern in den USA auf, in ein paar Jahren werden Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Österreich aufgeschlossen haben.

derStandard.at: Wer wird die nächsten 20 Jahre überleben: Facebook, Twitter oder derStandard.at?

Benton: Ich gestehe, dass ich nicht genug über den österreichischen Medienmarkt weiß, um Letzteres vorherzusagen. Aber ich hoffe, dass es derStandard.at auch noch 2035 gibt. Ich denke jedenfalls, dass der Großteil der Nachrichten in 20 Jahren über das Internet bezogen wird oder darüber, was nach dem Internet kommt.

Facebook kauft im Moment geschickt Features oder Plattformen ein, die dem Unternehmen in Zukunft schaden hätten können. Facebook konnte diese Firmen aufgrund seiner finanziellen Größe übernehmen. Deswegen denke, ich dass Mark Zuckerberg auch mit 50 Jahren noch im Geschäft sein wird. Ich würde mir das auch für Twitter wünschen, aber da bin ich mir nicht so sicher, weil ich hier die Zukunftsvision nicht erkennen kann.

Grundsätzlich: Wenn Sie mich 1995 um eine Vorhersage gebeten hätten, wäre ich vermutlich bei vielen Dingen falsch gelegen. Ich würde also kein Geld darauf setzen, was ich für 2035 prophezeie. (Rainer Schüller, derStandard.at, 26.1.2015)