Windeln, warme Babykleidung, ein paar Hygieneartikel. Alina (19) und Sergej (21) hatten nicht viel Zeit, ihre Sachen zu packen. Nur das Notwendigste stopften sie in die karierte Plastiktasche, die nun im Zimmer der Flüchtlingsunterkunft in der Ecke steht. Baby Igor ist zwei Monate alt. In einen dicken Skianzug gehüllt, liegt er auf dem Bett.

Seine Eltern haben nach der achtstündigen Fahrt dunkle Ringe unter den Augen. Sie spielten schon länger mit dem Gedanken, ihre Heimatstadt zu verlassen. Während der Schwangerschaft war eine weite Reise aber nicht möglich. Nun blieb der jungen Familie keine andere Wahl mehr.

Igor, Alina, Sergej.
Foto: Rosa Winkler-Hermaden

Abreise im Kriegsgewirr

Zu Hause, in Altschewsk in der Region Luhansk in der Ostukraine, klirrten die Scheiben, wenn Bomben explodierten. Alina und Sergej lebten in Angst, seit die Kampfhandlungen zwischen prorussischen Separatisten und der ukrainischen Armee im vergangenen Jahr begonnen hatten.

Im Flüchtlingslager "Romashka" in Charkiw, einer Stadt nördlich der Gefahrenzone, wurde ein Zimmer frei. Sergej und Alina, seit drei Jahren ein Paar, machten sich auf den Weg. Die Abfahrt verlief turbulent, erzählt Sergej: "Als wir die Stadt verlassen haben, hörten wir Kanonenschüsse." Der junge Familienvater spricht leise, antwortet knapp. Seiner Frau und ihm fiel es nicht leicht, die Wohnung aufzugeben. Die Nachbarn passen jetzt darauf auf. Alina hat außerdem eine Tante und ihre Großmutter in Luhansk zurückgelassen.

Laut OCHA-Report der Vereinten Nationen sind über 633.523 Personen als Binnenflüchtlinge aus dem Krisengebiet in andere Landesteile und über 593.622 in die Nachbarländer geflüchtet.
Grafik: Michael Bauer | Quelle: OCHA

Innerhalb der Ukraine sind bereits rund 600.000 Menschen auf der Flucht. Ebenso viele sind ins Ausland geflohen. Die Dunkelziffer ist weit höher. Ukraines Caritas-Präsident Andrj Waskowycz spricht von rund 2,5 Millionen Ukrainern, die umkämpfte Städte verlassen haben. Die Anzahl der Todesopfer im Ukraine-Konflikt ist UN-Angaben zufolge auf mindestens 5086 gestiegen. Alleine in den vergangenen neun Tagen seien 262 Menschen bei Gefechten zwischen Armee und Separatisten ums Leben gekommen.

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Ein von einer Bombe zerstörtes Wohngebäude im Dorf Nikolaiwka nahe Slowjansk.
Foto: APA/Angelika Kreiner

Die Versorgung der Flüchtlinge stellt das Land vor eine große Herausforderung. Auch Hilfsorganisationen kümmern sich um die Notversorgung. Bis Ende 2014 wurden von der Caritas insgesamt 35.000 Flüchtlinge in der Ukraine betreut, 5000 von der österreichischen Caritas. Finanziell bedeutet das einigen Aufwand: Seit Beginn des Krieges konnte die Caritas Österreich 400.000 Euro an Nothilfe freimachen - zusätzlich zu den ohnehin laufenden Sozialprojekten in der Ukraine, die mit 2,2 Millionen Euro dotiert sind.

Gleichzeitig ist auch die Solidarität unter vielen Ukrainern gestiegen. Private engagieren sich und betreiben Flüchtlingslager, zum Beispiel jenes in Charkiw. Romashka ist ein ehemaliges Kinderferienlager, das zu Sowjetzeiten als Erholungsort in den Sommermonaten diente. Als Bauunternehmer Wladimir Rozhkow und seine Frau Oksana das Lager kauften, war es nicht winterfest.

Flüchtlingsheim per Zufall

Dass aus Romashka ein Flüchtlingslager wurde, ist mehr oder weniger zufällig passiert. Eine Schwangere, die aus der Krisenregion fliehen musste, fragte bei dem Unternehmerpaar nach, ob sie unterkommen könne. Eine Woche später war das Lager mit 200 Personen belegt. Das war im Mai vergangenen Jahres, und seither haben hier schon 3000 Menschen gelebt, derzeit sind es 180 Personen.

Die meisten bleiben nur für ein paar Wochen und müssen sich während dieser Zeit einbringen: Kochdienst, Putzdienst, Wäschewaschen. Die Betreiber führen ein straffes Regiment, bieten aber im Gegenzug auch Entlohnung an.

Alltag im Flüchtlingslager.
Foto: Rosa Winkler-Hermaden

Der 42-jährige Wladimir ist sichtlich stolz, was er in kürzester Zeit geschaffen hat. Über Politiker verliert er kein gutes Wort. Es sei ein Irrglaube, von den Behörden etwas zu erwarten. "Bei einem Pathologen rechnet ja auch niemand, dass er medizinisch noch etwas bewirken kann", prangert Wladimir das korrupte System an.

Securitys im Wald

Wladimirs Frau Oksana, 29 Jahre alt und mit platinblond gefärbten Haaren, führt durch das Gelände. Sie gibt den Bauarbeitern, die die Hütten renovieren, Anweisungen. Das Areal liegt in einem idyllischen Wald. Zwischen den Bäumen tauchen uniformierte Männer auf. Sie schieben freiwillig Dienst. Das Paar will, dass alles ordentlich über die Bühne geht.

Oksana hat selbst drei Kinder, im Flüchtlingslager leben derzeit 45 Kinder.
Foto: Rosa Winkler-Hermaden

Doch ganz ohne Unterstützung von Flüchtlingshelfern geht es nicht. Einmal pro Woche liefert die Caritas Essenspakete nach "Romashka". Der Umbau der Hütten zu winterfesten Unterkünften wurde mit Geldern aus Polen und den USA finanziert, neue Fenster und Duschen eingebaut.

Auch Baby Igor wird nach der Ankunft gebadet. Er solle nicht weinen, denn er werde es einmal besser haben, sagt sein Vater: "Mein größter Wunsch ist es, dass er nicht erleben muss, was wir gerade durchmachen." Wie es mit der Jungfamilie weitergehen wird, ist offen. Sergej, gelernter Koch, will sich Arbeit suchen. Möglicherweise wird er mit seiner Frau und dem Kind auch noch weiter in Richtung Westen, vielleicht nach Kiew, gehen. Doch sich den weiteren Lebensweg auszumalen fällt nicht leicht: "Ich plane derzeit nicht gerne in die Zukunft."

Die Familie aus Lugansk hat derzeit keine Pläne für die Zukunft.
Foto: Rosa Winkler-Hermaden

Den Weg nach Kiew hat bereits eine andere Familie aus der Krisenregion hinter sich gebracht. Katarina (46), ihre Töchter Anja (13) und Svetlana (27) und deren Tochter Alina (7) kommen aus Donezk und leben seit September in einem Mutter-Kind-Heim der Caritas. Es ist die erste Einrichtung dieser Art in Kiew: Nicht nur Betroffene des Krieges kommen unter, sondern auch Frauen, die Opfer häuslicher Gewalt sind.

Derzeit leben fünf Frauen und neun Kinder in vier Zimmern. Eines teilt sich die Familie aus Donezk. Auf 14 Quadratmetern stehen drei Betten für die vierköpfige Familie zur Verfügung. In Donezk schliefen sie aus Angst vor einem Bombenangriff zuletzt auf Matratzen im Keller.

Sehnsucht nach dem Hund

Sie wirken dennoch optimistisch. Svetlana und Katarina haben Arbeit gefunden. Einfach sei es nicht gewesen, schildert Svetlana: "Ich musste oft ruhig bleiben und konnte nicht sagen, dass ich aus Donezk komme. Wir werden hier nicht besonders geliebt."

Vorsichtiger Optimismus im Mutter-Kind-Heim.
Foto: Rosa Winkler-Hermaden

Schwester Anja und Tochter Alina gehen in Kiew in die Schule. Heimweh hat vor allem die 13-jährige Anja. Sie vermisst ihre Haustiere. Jeden Tag telefoniert sie nicht nur mit dem Vater, der in Donezk geblieben ist, um sich um das Haus zu kümmern, sondern auch mit Hund Jeffrey. Dieser habe sogar Tränen in den Augen, wenn er Anja am Hörer habe.

Eine Einschätzung über die Konfliktparteien oder wie der Krieg ausgehen wird, will Svetlana nicht geben: "Der Krieg soll zu Ende gehen, alles andere ist egal." (Rosa Winkler-Hermaden aus Charkiw, DER STANDARD, 24.1.2015)