derStandard.at: Wir führen hier ein ganz konventionelles Interview, ein paar Fragen und Antworten, eine ganze Menge Text. Da drängt sich die Frage an den Leseforscher auf: Will das so noch jemand lesen? Ganz ohne Einleitung mit "Sie werden nicht glauben, was dann passierte" oder einer Liste über die zehn abgedrehtesten Medientrends? Ist das noch zeitgemäß?
Lobin: Davon gehe ich auf alle Fälle aus. Lesen ist eine hocheffiziente Methode, Informationen aufzunehmen, aber auch, um Emotionen oder visuelle Eindrücke sprachlich zu vermitteln. Deshalb bleibt Lesen in zehn, in zwanzig Jahren und auch in hundert Jahren eine Methode, mit der die Menschheit kommunizieren wird.
derStandard.at: Medienkonsum scheint aber doch mehr und mehr von Bewegtbildern geprägt zu sein.
Lobin: Ich glaube nicht, dass das ein Widerspruch ist, sondern vielmehr eine Ergänzung, eine Kombination verschiedener Informationstypen. Wo der klassische Text und die visuelle Darstellung eine wirklich integrative Verbindung eingehen, wird es richtig interessant. Bei Informationsgrafiken etwa – Text und Grafik stellen den Zusammenhang des Inhalts räumlich-metaphorisch dar. Das erleichtert auch die Aufnahme von Information. Und das beobachten wir in fast allen Medien.
derStandard.at: Das klingt nach einer Antwort auf meine nächste Frage: Wie werden wir Ihrer Erwartung nach in Zukunft lesen?
Lobin: Es gibt neben der Multimedialität zwei weitere wichtige Tendenzen. Zum einen die Sozialität des Lesens: eine engere Vernetzung mit anderen Lesern und Schreibern. Und zum anderen hybrides Lesen und Schreiben – der Computer schreibt quasi mit.
derStandard.at: Ich frage mich als Autor gerade, ob ich das wirklich möchte.
Lobin: Das ist der interessanteste und zugleich wahrscheinlich auch kritischste Punkt. Wir sind nicht mehr alleine im Prozess des Schreibens und Lesens. Der Computer greift ein in diesen Prozess, er bringt seine eigenen Auswahlentscheidungen und Überformungen ein.
derStandard.at: Da fällt einem doch die Google-Suche mit ihren ausgeklügelten Algorithmen ein. Ich finde dort womöglich mit denselben Suchbegriffen etwas anderes als mein Sitznachbar.
Lobin: Ja, die Personalisierung der Suche ist ein heute schon deutlich greifbarer Aspekt davon. Oder wenn Sie einen Suchbegriff eingeben und Ihre Eingabe automatisch ergänzt wird. Ihre Suche wird gemäß Ihrem Suchverhalten vervollständigt, auch korrigiert, oder vielleicht wird Ihnen auch ganz von selbst vorgeschlagen, was Sie vielleicht gerade wissen wollen könnten.
derStandard.at: Die automatische Korrektur von Textnachrichten heute kann allerdings vor allem zu ernsten Verstimmungen oder zumindest Verwirrung bei Adressaten beitragen, wenn man das Smartphone nicht daran hindert. Aber wie wirkt hybrides Lesen auf längere Texte – zum Beispiel Bücher?
Lobin: Vorboten dafür gibt es bei der Auswahl unserer Lektüre und sogar bei der Produktion von Texten. Auf der Website des amerikanischen Wirtschaftsmagazin "Forbes" findet man einen Blog namens "Narrative Science", dessen Beiträge vollautomatisch aus aktuellen Börsenmitteilungen von Firmen generiert werden. Den Texten merkt man kaum an, dass sie nicht von Menschen geschrieben wurden. Mit solchen Texten werden wir auch an anderen Stellen konfrontiert – auch wenn wir es nicht gleich merken.
derStandard.at: Soll ich mich besser bald umschulen lassen? Vielleicht schaff ich's ja noch zum Programmierer solcher Textprogramme?
Lobin: Ich glaube nicht, dass das das journalistische Schreiben betreffen wird. Texte sind ja umso besser, je unerwarteter und lebendiger sie geschrieben sind, je mehr sie uns überraschen und geistig herausfordern. Und das wird ein Algorithmus so schnell nicht schaffen.
derStandard.at: Es gibt immerhin schon Programme, die Sportergebnisse in Textform bringen.
Lobin: Wo es um Informationstexte geht, wird das kommen – oder es ist längst da. Auch bei Wettervorhersagen etwa oder bei Statusmeldungen von Programmen.
derStandard.at: Viele Bedienungsanleitungen und Speisekarten sind immerhin schon offenkundig maschinell übersetzt. Bücher schreibt der Computer aber wohl eher nicht, oder?
Lobin: Doch. Es gibt tatsächlich E-Book-Verlage, die mit Romanen experimentieren, deren Inhalte sich an spezifischen Leservorlieben ausrichten. Hauptfiguren zum Beispiel werden aus Versatzstücken zusammengestellt, und man kann auswählen, ob es Fantasy-Elemente geben darf und am Ende ein Happy-End vorkommen soll. Das sind Vorboten des hybriden Lesens auch bei längeren Texten.
derStandard.at: Man könnte einwenden: Das tat etwa der klassische Bastei-Roman von Liebe über Heimat bis Abenteuer aber schon lange – nur eben von menschlichen Textproduzenten verfasst.
Lobin: Das stimmt. Eines ist allerdings bei digitalem Lesen anders: Dabei liest immer jemand mit, wenn wir lesen. Wenn wir E-Books nutzen, wird sehr genau aufgezeichnet, welche Seite wir wie schnell gelesen haben, wo wir unterbrochen oder aufgehört haben. Die Daten fließen an die E-Book-Plattform zurück. Und daraus kann man Vorlieben oder Lesegewohnheiten ablesen. Das sind Daten, die man wie die Einschaltquoten beim Fernsehen auswerten kann. Das ist natürlich auch eine Form der potenziellen Lesekontrolle, die es bisher in dieser Form nicht gegeben hat.
derStandard.at: Wenn Maschinen oder Verlage einem beim Lesen über die Schulter schauen: Birgt das Gefahren?
Lobin: Die Lese-Analytik hat durchaus das Zeug, zu einem richtigen Problem zu werden. Im Moment sieht das noch nicht so aus, denn Verlage nutzen diese Daten allenfalls sporadisch. Aber stellen Sie sich vor, wir werden nur noch konfrontiert mit Texten, die auf diese Art konfektioniert worden sind. Dann geht das weit über die Usancen des Privatfernsehens hinaus: Es entstehen Artikel und Bücher, die sehr genau abgestimmt sind auf die Erwartungen des Publikums. Damit schmoren wir immer mehr im eigenen Saft und bekommen keine neuen Impulse durch literarische oder journalistische Texte, die uns mit ganz Unerwartbarem konfrontieren. Das sehe ich als ein Problem an.
derStandard.at: Das führt uns recht direkt zum dritten zentralen Punkt Ihrer Prognose: zum sozialen Lesen. Wenn man sich das so vorzustellen hat wie Social Media – die dazu neigen sollen, Userinnen und User in einer Blase aus übereinstimmenden oder zumindest erwartbaren Meinungen und Themen zu halten.
Lobin: Sozialität des Lesens meint zunächst einmal, dass sich die Leser über digitale Medien miteinander während des Lesens verbinden können. Natürlich gab es auch schon früher Literaturclubs und Lektürezirkel. Eklatant ist heute allerdings die Unmittelbarkeit und Geschwindigkeit des Austauschs während des Lesens, nicht nur regional, sondern potenziell global. Anmerkungen eines Lesers können sofort auch viele andere sehen. Diese werden auf entsprechenden Webseiten gesammelt und auf E-Book-Readern dynamisch in den Text eingeblendet. Das ist vom Prinzip her nicht völlig neu, erreicht aber durch die Vernetzung im digitalen Raum eine neue Dimension.
derStandard.at: Möchten Sie in Ihrem Buch auch zu jedem Absatz die Kommentare anderer Leser bekommen?
Lobin: Das fände ich sehr interessant. Allerdings stehe ich als jemand im mittleren Alter mit einem Bein in der alten Lesewelt und mit einem in der neuen. Man entwickelt sich natürlich weiter, empfindet aber manche Aspekte zumindest zunächst nicht nur als angenehm und hilfreich. Digitales Schreiben auf kleinen Handy-Tastaturen war zunächst nicht besonders reizvoll für mich – aber auch dabei hat sich rasch eine Eigendynamik entfaltet und Effizienz eingestellt. Und inzwischen wachsen Generationen ganz oder überwiegend mit solchen technischen Möglichkeiten auf.
derStandard.at: Wie wirkt diese Möglichkeit in Büchern zurück auf das Lesen?
Lobin: Es handelt sich in der Tat um ein anderes Lesen, und man wird "öffentlicher" mit all seinen Leseerfahrungen. Und das geht Hand in Hand mit einem Wandel der Lesegewohnheiten, wie ihn einige Studien nachweisen können.
derStandard.at: Nämlich?
Lobin: Es wird mehr zwischendurch gelesen, in kleinen Portionen, auf unterschiedlichen Geräten, ohne dass das klassische gedruckte Buch zugleich an Bedeutung verlieren würde. Die Lesegewohnheiten verändern sich parallel zu den Möglichkeiten, die uns mit Smartphone oder Tablet-Rechner an die Hand gegeben werden.
derStandard.at: Macht das Endgerät einen Unterschied in der Wahrnehmung, im Lesen?
Lobin: Es gibt in der Tat einige Studien dazu. Am häufigsten zitiert wird eine Studie der Universität Mainz aus dem Jahr 2013 – mit interessanten Ergebnissen: Die meisten Personen lesen lieber auf Papier, weil sie das als besser einschätzen. Aber wenn man die Leseleistungen im Einzelnen überprüft, dann schneiden Tablet-Rechner besser ab. Besonders weit klaffen Selbsteinschätzung und tatsächliche Leseleistung bei älteren Menschen auseinander. Sie glauben, dass sie gedruckte Bücher viel besser handhaben können. Aber durch die größere Schrift und das leuchtende Display auf Tablets können sie tatsächlich damit besser lesen.
derStandard.at: Gerade die Beleuchtung soll aber auch das Auge anstrengen.
Lobin: Man schaut in eine Lichtquelle, was uns eigentlich nicht angenehm erscheint. Das Problem gibt es nicht bei E-Book-Readern. Aber die Qualität der Displays entwickelt sich mit hohem Tempo weiter. Ich halte dies daher für Probleme des Übergangs.
derStandard.at: Nun schreiben die Generationen nach uns vermutlich mehr als viele zuvor – sie kommunizieren oft schriftlich über WhatsApp, Facebook, Twitter, die Traditionalisten vielleicht auch noch SMS. Wirken diese kurzen, nicht immer in der Nähe klassischer Schriftsprache angesiedelten Texte auf die Sprache insgesamt zurück?
Lobin: Natürlich manifestiert sich das nach und nach im Sprachsystem – wie übrigens bei jedem Medienwandel zuvor. Durch den Buchdruck zum Beispiel sind die Sätze tendenziell länger und komplexe grammatische Konstruktionen häufiger geworden.
derStandard.at: Beim Sprechen findet man eben nach dem dritten Nebensatz nicht mehr ganz so leicht elegant zu einem vernünftigen Satzende. WhatsApp und Co scheinen eher in die Gegenrichtung zu gehen.
Lobin: SMS, Chats oder Facebook-Statusmeldungen erinnern eher an mündliche Kommuni-kation, haben aber gleichzeitig Merkmale der schriftlichen. Emoticons kann man beispiels-weise mündlich nicht vermitteln. Untersuchungen von Sprachwissenschaftern haben generell gezeigt, dass Jugendliche sehr wohl zu unterscheiden wissen zwischen der Sprachebene auf Facebook und beim Chat und den Erwartungen an andere, formalisiertere Textsorten. Da gibt es zwar gewisse gegenseitige Beeinflussungen, aber grundsätzlich funktioniert diese Fähigkeit zur Differenzierung bei Jugendlichen auch heute noch. Die Verwendung unterschiedlicher sprachlicher Stile lernt man ja in der Schule – und hoffentlich auch weiterhin. Die Befürchtungen, dass das alles ein Mischmasch wird und die Sprache automatisch verarmt, scheinen nicht ganz so berechtigt zu sein.
derStandard.at: Wenn wir schon plaudern, weil ein Medium seine ersten 20 Jahre feiert: Wie wirken Ihre drei zentralen Entwicklungslinien des Lesens – multimedial, sozial, hybrid – auf Medien zurück, oder wie sollten sie sich entwickeln?
Lobin: Ich maße mir nicht an, Ihnen für das Web-Portal von DER STANDARD aus dem Handgelenk Ratschläge zu erteilen. Viele überlegen sich ja derzeit, wie sie sich am besten für die weitere Entwicklung aufstellen. Ich habe mir Ihre Webseiten im historischen Verlauf angesehen. Da erkennt man, wie Sie ohnehin ständig am Adaptieren sind. Sie befinden sich ja längst in einem kontinuierlichen Verbesserungsprozess.
derStandard.at: Und wohin sehen Sie dieses Medium da segeln?
Lobin: Auf einer Route zwischen den drei erwähnten Strömungen: Die Sozialität spielt für Sie schon eine wichtige Rolle in den Foren und Kommentarfunktionen. Auch die könnte sich weiterentwickeln, vielleicht kann man künftig Textteile kommentieren. Die grafische Aufbereitung ist eine komplexe Aufgabe und erfordert die Kooperation unterschiedlicher Spezialisten. Das ist in einem Nachrichtenmedium ja schon angelegt und damit am besten möglich.
derStandard.at: Und zum Dritten übernimmt eine Maschine meinen Job.
Lobin: Ich denke da viel eher an Leserbindung durch Automatisierung, etwa spezifische Be-nachrichtigungen und persönlich zugeschnittene Informationsangebote. Das ist bislang vielleicht am wenigsten ausgeprägt. Journalismus wird man jedenfalls weiter brauchen.
derStandard.at: Sie würden mir jetzt aber auch nicht erklären, dass man meinesgleichen nicht mehr braucht.
Lobin: Journalisten werden auch weiterhin benötigt, davon bin ich felsenfest überzeugt. Ich erwarte sogar, dass es in der Publikumswahrnehmung noch wichtiger wird, wer einen bestimmten Text geschrieben hat. Nackte Information über Ereignisse erreicht uns inzwischen etwa über Twitter in Echtzeit. Aber wir sind nicht ohne weiteres in der Lage, die auf uns einprasselnde Information zu sortieren, zu gewichten, zu deuten, in einen Zusammenhang zu bringen oder gar zu überprüfen. Das ist und bleibt die Aufgabe von Journalisten. Und wenn all das über den reinen Text hinausgeht und die Visualität der Information eine immer größere Bedeutung erlangt, spielen Journalisten als Informations- und Deutungsexperten eine sogar noch bedeutendere Rolle als in der Vergangenheit. (Harald Fidler, derStandard.at, 26.1.2015)