"Wir haben verlernt, uns Zeit für uns selbst zu nehmen", sagt die südkoreanische Medientheoretikern Kim Eun-mee.

Foto: Fabian Kretschmer

derStandard.at: In keinem Land der Welt gibt es schnellere Internetverbindungen als in Südkorea, 73 Prozent der Bevölkerung besitzen ein Smartphone. Wie wirkt sich das auf den Medienkonsum aus?

Kim: Die erste Veränderung seit Ausbreitung des Internets war das Aufkommen vieler alternativer Medien, die ausschließlich online veröffentlichten. Dort haben sie schon bald angefangen, fast ebenbürtig mit den etablierten Verlagshäusern um die Aufmerksamkeit der User zu buhlen. Mit dem Aufkommen der Smartphones und Tablets haben die Leute ihre Nachrichten nicht mehr auf Laptops oder PCs konsumiert, sondern vorwiegend auf mobilen Endgeräten – und zwar an keine Tageszeit gebunden. Die jungen Leute suchen heute nicht mehr gezielt nach Information, ganz im Gegenteil: Die Redaktionen jagen der Aufmerksamkeit ihrer User hinterher.

Dieses Überangebot an Nachrichten hat auch zur Folge, dass ein Gros der Leute nicht mehr auf die Internetangebote der Medien selbst geht, sondern vorwiegend die großen Portale besucht, auf die man ohnehin zugreifen muss – etwa weil sie auch als E-Mail-Anbieter fungieren oder Kartendienste anbieten. Dort klickt man sich dann durch die interessantesten Schlagzeilen. Das ist das dominierende Konsummuster in Südkorea, an zweiter Stelle erst kommen die sozialen Netzwerke.

derStandard.at: Wie beeinflusst das die Nachrichtenproduktion?

Kim: Die alternativen Internetmedien haben sich schnell an die neuen Rezeptionsgewohnheiten angepasst: Statt in investigative Recherchen zu investieren, haben sie vor allem darauf gesetzt, virale Hypes zu erzeugen. Die Überschriften wurden enorm wichtig, viel wichtiger als die Qualität des Geschriebenen oder dessen Faktengehalt. Die Leute konsumieren nur mehr selten tiefergehende Themen, sondern lassen sich vor allem von der prägnantesten Schlagzeile ködern. Diese Entwicklung beunruhigt viele Journalismus-Professoren sehr.

derStandard.at: Wie kommen die traditionellen Medienhäuser mit dem Wandel zurecht?

Kim: Die etablierten Medien waren sehr langsam darin, sich auf die neue Umgebung einzustellen. Mit der riesigen Organisationsstruktur im Rücken und den althergebrachten Arbeitsweisen kamen sie wie Dinosaurier daher.

derStandard.at: Nimmt man die drei großen Tageszeitungen heraus, ist ihre Print-Auflage mit fast 4,5 Millionen noch immer sehr hoch.

Kim: Das hängt natürlich davon ab, ob man das Glas halb voll oder halb leer sieht. Tatsächlich verlieren alle Tageszeitungen durch die Bank Abonnenten – und zwar wesentlich schneller, als wir das alle erwartet hätten. Seit zwei, drei Jahren öffnen sie sich jedoch vermehrt für Experimente im Multimedia-Bereich, und seit letztem Jahr ist ein eindeutiger Trend hin zu teilweisen Paywalls zu beobachten, bei denen die Hintergrundgeschichten und investigativen Recherchen für die zahlenden Nutzer reserviert bleiben. Ob diese Paywalls auf Dauer profitabel sein werden, ist noch mehr als fraglich.

derStandard.at: Hat sich bislang überhaupt ein nachhaltig funktionierendes Geschäftsmodell für digitale Inhalte etabliert?

Kim: Bisher sind das alles nur Experimente. Ein paar alternative Online-Redaktionen haben auf Crowdfunding gesetzt, um komplett auf Anzeigen verzichten zu können. Die meisten jedoch mussten nach kurzem wieder einlenken. In der südkoreanischen Medienlandschaft wird derzeit viel nach dem Prinzip Trial and Error ausprobiert. Dieser Prozess an sich ist wichtig – um längerfristig ein optimales Geschäftsmodell herauszukristallisieren.

derStandard.at: Woran scheitert es vor allem?

Kim: Ein großes Problem ist, dass die User auf die Artikel der Redaktionen zu großen Teilen über große Internetportale gelangen. Die journalistischen Inhalte, die sie dort anbieten, verkaufen sie jedoch weit unter Wert. Dieses Jahr wird es neue Verhandlungen zwischen den Medien und den Internetportalen geben. Da diese Verhandlungen maßgeblich über die Qualität des öffentlichen Journalismus bestimmen werden, fordern derzeit viele Experten, dass der Staat hier regulierend eingreifen sollte. Ich glaube jedoch nicht, dass dies passieren wird.

derStandard.at: Gibt es neue Trends, wie wir in Zukunft Medien konsumieren werden?

Kim: Faltbare Bildschirme sind das Ideal – eine Vision, von der schon seit einigen Jahren die Rede ist. Bislang sehe ich das jedoch nicht. Eine Besonderheit der mobilen Endgeräte in Korea ist, dass die Smartphones generell größere Displays haben, fast wie Tablets. Das hat einerseits mit den langen Pendler-Zeiten zu tun. Zudem konsumieren Südkoreaner verstärkt audiovisuelle Inhalte, allen voran Fernsehserien.

derStandard.at: Für seine Seifenopern ist Südkorea in ganz Asien berühmt. Gibt es Versuche, durch alternative narrative Formen, die bislang für Unterhaltungszwecke reserviert waren, journalistische Inhalte mitzuliefern?

Kim: Podcast-Formate sind in Südkorea sehr erfolgreich. Viele Journalisten schließen sich mit Nichtregierungsorganisationen zusammen, um ihre eigenen Redaktionen zu bilden. Sie machen Podcasts, Youtube-Kanäle, ganze Nachrichtenseiten. Solche Projekte gibt es vermehrt seit dem Sewol-Unglück im vergangenen April.

derStandard.at: Damals kamen 300 Schüler ums Leben. Im Zuge der Berichterstattung gerieten die etablierten Medien in eine Glaubwürdigkeitskrise, unter anderem weil sie geschönte Zahlen veröffentlichten.

Kim: Durch das Unglück haben viele überhaupt erst mitbekommen, dass es auch alternative Informationsquellen gibt. Mittlerweile sind von allen registrierten Nachrichtenredaktionen mehr als 30 Prozent ausschließlich im Internet aktiv – die meisten alternativen Projekte ohne Verlagshaus im Rücken.

derStandard.at: Spielen sie bereits eine relevante Rolle in Bezug auf eine kritische Gegenöffentlichkeit?

Kim: Nimmt man die Leserschaft und die Finanzierungssicherheit als Kriterien, dann sind solch alternative Projekte immer noch relativ marginal. Jedoch hat allein die Tatsache, dass wir überhaupt solche alternativen Stimmen haben, die großen Medienhäuser für ihre Arbeit sensibilisiert. Es gibt eine gegenseitige Stimulation der Kräfte.

derStandard.at: Wieso sind die Leute in Südkorea eigentlich technikaffiner als anderswo?

Kim: Wenn ich als Südkoreanerin nach Europa reise, fühle ich mich wie erstickt: Die Verbindungen sind langsam, und Downloads dauern eine gefühlte Ewigkeit. Langsamkeit wird hier nicht mit Schönheit assoziiert, sondern vor allem mit Unterlegenheit und Inkompetenz. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist uns Koreanern das Konkurrenzdenken quasi in die DNA gespeichert. Das ganze Land lag nach dem Koreakrieg in Trümmern, und die ganze Entwicklung des Wiederaufbaus geschah in einer komprimierten Zeit.

In unseren sozialen Genen ist uns antrainiert worden, dass wir uns konstant wandeln und anpassen müssen – und immer auch schauen müssen, was die anderen machen, damit wir nicht hinterherhinken. Das macht uns wandlungsfähig und offen für Trends. Aber natürlich hat das auch seine schlechten Seiten: In der Zwischenzeit haben wir den Kontakt zu unserer Tradition verloren. Wir haben verlernt, uns Zeit für uns selbst zu nehmen. (Fabian Kretschmer, derStandard.at, 26.1.2015)