Jan Egeland: "Eine vernachlässigte Krise bedeutet oft ein Desaster für die Menschen."

Foto: NRC/Beate Simarud

STANDARD: Für den Flüchtlingsreport Ihrer Hilfsorganisation wählten Sie im Vorjahr zehn vernachlässigte Krisen aus. Wie viele, denken Sie, gibt es weltweit?

Egeland: Es gibt dutzende Länder mit Flüchtlingen, wo die gefährdeten Gruppen vernachlässigt oder vergessen sind. Leider ist es nie schwer, zehn Krisen zu finden. Da herrscht quasi ein Wettbewerb, um auf diese traurige Liste zu gelangen.

STANDARD: Wie wird eine Krise vernachlässigt?

Egeland: Das geschieht durch eine Kombination aus schlechten Kräften: Die Opfer sind nicht strategisch wichtig genug für die größten Spender, sie sind in den einflussreichen Organisationen und Medien nicht gut genug vernetzt. Oder sie sind schlichtweg zu arm, und man ist an die Krise schon so gewöhnt, dass man nicht mehr hinsieht. Kurz zusammengefasst: Sie werden vernachlässigt, weil die, die keine Stimme haben von uns, die eine Stimme haben, vergessen wurden.

STANDARD: Was passiert mit Opfern einer vernachlässigten Krise?

Egeland: Oft bedeutet das ein Desaster für die Menschen. Die Mehrheit der Bevölkerung oder die politische und militärische Elite eines Landes hat meistens kein Interesse, die Krise zu lösen, und deshalb sind die Betroffenen auf internationale Hilfe und Aufmerksamkeit angewiesen. Wenn die wegfällt, werden etwa Flüchtlingslager miserabel. Ich habe nun die Angst, dass zum Beispiel Afghanen im Iran und Pakistan Jahrzehnte als Flüchtlinge verbringen werden, weil die internationale Gemeinschaft auf sie vergisst.

STANDARD: Oft spielt politisches Interesse eine Rolle, dass eine Krise vergessen wird. Was kann die Weltgemeinschaft tun, um das zu ändern?

Egeland: Was humanitäre Organisationen, Spender, UN-Mitglieder und Journalisten machen können, ist, die Themen nach objektiven Bedürfnissen der Opfer auszuwählen und nicht danach, wo es einfacher ist, Informationen zu bekommen. Sie sollten sich nicht von populären Themen in der Öffentlichkeit leiten lassen. (Bianca Blei, DER STANDARD, 29.1.2015)