STANDARD: Zum Einstieg ein kleiner Rückblick: Was waren 2014 die größten Überraschungen am Kapitalmarkt?
Grüner: Der globale Zinskollaps war das überragende Thema an den Finanzmärkten. Waren die Banken Anfang 2014 unisono von einem moderaten Zinsanstieg ausgegangen, hat sich die Rendite der zehnjährigen deutschen Staatsanleihe nahezu in Luft aufgelöst – sie ging von 1,96 Prozent auf 0,54 Prozent zurück. Jetzt im Jänner ist sie sogar auf 0,35 Prozent gesunken. Zudem brach der Ölpreis im zweiten Halbjahr 2014 regelrecht zusammen: Bis zum Jahresende hat er sich mit knapp über 50 Dollar je Fass halbiert und in den ersten drei Jänner-Wochen dieses Jahres nochmals 20 Prozent an Wert verloren. Unsere Prognosen gehen entgegen anders lautender Meinungen für heuer davon aus, dass Öl keinen bemerkenswerten Anstieg sehen wird. Der hohe Optimismus steht einem großen Anstieg als Kontraindikator tendenziell entgegen.
STANDARD: Besteht die Gefahr, dass die Volatilität der Rohstoffmärkte auf die Aktienmärkte überschwappt?
Grüner: Nein, das ist ein Trugschluss. Öl ist ein Rohstoff wie jeder andere auch, man darf nicht zu viel in ihn hineininterpretieren. Informationen werden schnell und ohne Einschränkungen in allen Kapitalmärkten verarbeitet und diskontiert. Somit ist es unmöglich, dass der Ölmarkt etwas weiß, was der Aktienmarkt noch nicht weiß.
STANDARD: Wie sehen Sie die Entwicklung der globalen Aktienmärkte für 2015?
Grüner: Für die meisten Märkte sehr positiv. Das ergibt sich schon aus der Grunderwartungshaltung, dass 2014 für viele Regionen kein besonders gutes, sondern eher ein Übergangsjahr war – viele positive Effekte haben sich dadurch aufgestaut. Man muss sich nur den fulminanten Start des Dax anschauen: Nachdem der Deutsche Leitindex vorerst mit einem leichten Minus ins neue Jahr gestartet ist, liegt er mittlerweile schon knapp zehn Prozent im Plus. Die US-Aktienmärkte bleiben allerdings weiterhin das Zugpferd des nun schon Jahre andauernden Bullenmarkts.
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STANDARD: Und was die globale Weltwirtschaft betrifft?
Grüner: Die meisten Prognosen sind viel zu skeptisch. Derzeit erleben wir ein Phänomen, das an Skurrilität kaum zu überbieten ist: Die Märkte schießen nach oben und die Angst der Anleger nimmt deutlich zu. Die Rekordstände an den Börsen werden kaum wahrgenommen und durch einen fallenden Eurokurs, die Geldpolitik der Europäischen Zentralbank oder die Wahlen in Griechenland weitgehend ignoriert. Wir erleben fast schon eine Endzeitstimmung – die gefühlten Gefahren werden absolut überbewertet.
STANDARD: Der Bullenmarkt ist also nicht gefährdet?
Grüner: Ganz im Gegenteil: Bullenmärkte starten in "tiefster Nacht", wachsen am Optimismus entlang, sterben in Zeiten der Euphorie.
STANDARD: Und was lässt die Bullenmärkte sterben?
Grüner: Es gibt zwei große Auslöser für einen Bärenmarkt: Ein globales Ereignis, das Billionen des weltweiten Bruttosozialprodukts vernichtet, wie zum Beispiel die große Banken- und Immobilienkrise nach dem Zusammenbruch von Lehman Brothers 2008/2009. Zum anderen – wie schon erwähnt – durch zu viel Euphorie. Also dann, wenn sich die Menschen auf Kredit Aktien kaufen und Risiken, die eigentlich auf der Hand liegen, ausblenden. Doch davon sind wir wohl noch mindestens zwei Jahre entfernt.
STANDARD: Wie beurteilen Sie die Entscheidung der EZB, Staatsanleihen im großen Stil anzukaufen?
Grüner: EZB-Chef Mario Draghi hat mit seinem Spruch "Whatever it takes" schon vor Jahren das Kunststück fertig gebracht, die Märkte glauben zu lassen, er werde alles tun, um den Euro zu verteidigen. Sprich, das Quantitative Easing (QE) war keine Überraschung, aber es wird bislang falsch interpretiert. Zudem gewinnt das tiefe, von den Notenbanken flankierte Zinsniveau, immer mehr an Bedeutung. Was passiert, wenn eine Notenbank langfristige Anleihen kauft? Das langfristige Zinsniveau wird weiter nach unten gedrückt, das kurzfristige auf Null gehalten. Die Folge ist, dass die Kreditexpansion seit dem Zweiten Weltkrieg noch nie so gering war wie jetzt. Das heißt, QE kurbelt das Kreditwachstum nicht an, es beschädigt dieses sogar auf Dauer. Durch das Nullzins-Niveau flacht die Zinsstrukturkurve bei langfristigen, künstlich niedrig gehaltenen Anleihen ab. Dementsprechend sinkt die Motivation der Banken, einen risikobehafteten Kredit zu vergeben. Die EZB torpediert somit ihr eigenes Ziel.
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STANDARD: Ist die US Notenbank (Fed) in dieser Hinsicht Europa voraus?
Grüner: Ja. Doch kurioserweise fällt kaum jemanden der Zusammenhang zwischen Auslaufen des QE-Programms und wirtschaftlicher Dynamik auf. Seit die Fed ihr Tapering vor knapp einem Jahr begann, zog auch die Kreditvergabe spürbar an. Parallel dazu verzeichneten die USA im vierten Quartal 2014 das höchste Wirtschaftswachstum – auf ein Vierteljahr berechnet – seit mehr als 20 Jahren.
STANDARD: Welche Rolle soll die Politik bei der Wirtschaft-Ankurbelung spielen?
Grüner: Am besten gar keine. Märkte bevorzugen ein Umfeld mit möglichst wenig staatlichen Eingriffen und der Möglichkeit, so viel wie möglich selbst zu regulieren. Ironisch könnte man jetzt sagen, die EZB wird einen gebührlichen zeitlichen Abstand zur Fed halten und dann ebenfalls die Anleihen-Ankäufe zurückfahren.
STANDARD: Die Rolle der EZB beim Ankauf griechischer Schrottpapiere?
Grüner: Durch das QE beziehungsweise tiefe Zinsniveau bekommen die Krisenländer einen neuen Finanzspielraum und sehen immer weniger eine Notwendigkeit, die versprochenen Reformen durchzuführen. Griechenland setzt ein fatales Signal: Allein die Idee, dass die Regierung in Athen Forderungen stellt und diese am Ende des Tages auch durchbringt, ist absurd. Griechenland ist schlicht pleite. Anstatt das zu akzeptieren, lässt sich die Europäische Union erpressen, indem sie die Reformen lockert. Marktwirtschaft funktioniert eben nicht nach dem Prinzip, dass das schwächste Glied einer Kette dem Starken seine Wünsche aufoktroyiert. Das wäre so, als ob bei Kriegsende der Verlierer dem Gewinner die Bedingungen für eine Kapitulation diktiert. Die Griechen müssen allerdings sehr aufpassen, dass sie ihre Forderungen nicht überziehen. Für Griechenland wäre ein "Grexit" ein regelrechter finanzieller Selbstmord, würde aber wahrscheinlich niemanden mehr überraschen. Es gibt wohl kaum eine Bank oder einen Unternehmenschef, der noch keine Vorbereitungen für dieses Szenario getroffen hat.
STANDARD: Wo sehen Sie die Chancen und Risiken für 2015 auf den Finanzmärkten?
Grüner: Auch im Jahr 2015 werden uns unvorhersehbare Ereignisse begleiten - der Bullenmarkt ist aber robust genug, auch mit zahlreichen neuen Störfeuern umzugehen. Sowohl Unternehmen als auch Private sitzen auf rekordhohen Liquiditätsbergen. Die Länder in der Eurozone werden durch das niedrige Zinsniveau ihrer Anleihen in ihrem Staatshaushalt derart entlastet, dass eine neue große europäische Finanzkrise zumindest im kommenden Jahr sehr unwahrscheinlich ist. (Sigrid Schamall, DER STANDARD, 30.1.2015)