Göttingen - Stummelfüßer sind ungewöhnliche Lebewesen, die im Tierreich zwischen Würmern und Gliedertieren angesiedelt sind. Unter Zoologen gelten sie als lebende Fossilien. Namensgebend sind ihre zahlreichen kleinen Stummelbeinen, auf denen je nach Terrain unter Einsatz von Krallen umher laufen. "Etwa 500 Millionen Jahre alte Fossilien belegen, dass die Stummelfüßer bereits lange vor den Dinosauriern gelebt und sich seit dieser Zeit kaum verändert haben", erklärt Nikola-Michael Prpic-Schäper vom Göttinger Zentrum für Molekulare Biowissenschaften. Gemeinsam mit Kollegen von der Universität Uppsala hat er die genetischen Entwicklungsmechanismen bei den urtümlichen Stummelfüßern genauer untersuchten und dabei eine Überraschung erlebt.
Die Beine der heute nur noch in Südamerika, Südafrika und Australien vorkommenden Stummelfüßer sind kurz, dick und ohne Gelenke und somit nur zum langsamen Kriechen geeignet. im Unterschied dazu sind die Beine der mit ihnen entfernt verwandten Insekten hochentwickelt. Die Forscher nahmen daher an, dass sich die genetischen Mechanismen der Beinentwicklung zwischen Insekten und Stummelfüßern erheblich unterscheiden. Ein Irrtum, wie sich herausstellen sollte.
Ungenutzte Gene
Zu ihrer Verblüffung fanden die Forscher nämlich kaum nennenswerte Unterschiede. "Der Mechanismus, der in den Insekten die Beingliederung und Gelenkbildung einleitet, läuft nahezu unverändert auch in den Beinen der Stummelfüßer ab – nur, dass diese Stummelbeine gar keine Gelenke haben", sagt Ralf Janssen, Leiter der Studie an der Universität Uppsala. Die Stummelfüßer haben also auf genetischer Ebene alles was man braucht, um hochentwickelte Beine zu erzeugen, nutzen diese Fähigkeit aber offenbar nicht.
"Auch wenn dies unlogisch erscheint, erkennen wir dadurch, wie Evolution funktioniert. Die Stummelbeine sind quasi eine Vorstufe der Insektenbeine. Die Stummelfüßer haben das Genmaterial für höher entwickelte Beine, brauchen dies aber nicht, da es ihre Lebensweise unter Steinen und in Moospolstern nicht erfordert", erklärt Prpic-Schäper. Nach Ansicht der Wissenschafter haben die Vorfahren der Stummelfüßer ihre Fähigkeiten an die ersten Insekten weitervererbt, welche dieses Geschenk gewinnbringend zu nutzen wussten. Heute gibt es etwa 200 Arten von Stummelfüßern aber gut zehn Millionen Insektenarten. (red, derStandard.at, 02.02.2015)