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Carl Djerassi starb in der Nacht auf Samstag an den Folgen eines Krebsleidens.

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San Francisco / Wien – Je mehr man über Carl Djerassi erfuhr, desto eher musste man glauben, dass dieser Mann entweder im falschen Jahrhundert lebte oder ein bis zwei Doppelgänger gleichen Namens hatte. Als Naturwissenschafter Bahnbrechendes zu leisten, sich als Romancier und Dramatiker einen Namen zu machen und sich daneben auch noch als Kunstsammler und Mäzen zu betätigen, war eigentlich nur ganz wenigen Menschen in der Renaissance vorbehalten.

Carl Djerassi brachte all das in einem einzigen Leben unter, das in der Nacht auf Samstag zu Ende ging – und das jenes von Abermillionen von Frauen veränderte: Als Chemiker leistete Djerassi entscheidende Beiträge zur Entwicklung der Pille, als deren "Mutter" sich Djerassi stolz bezeichnete. Begonnen hat Djerassis Leben vor über 91 Jahren am 29. Oktober 1923 in Wien – und als bulgarischer Staatsbürger.

Djerassi wurde als Sohn eines bulgarischen Vaters und einer österreichischen Mutter in eine jüdische Familie geboren. Nachdem er seine frühe Kindheit in Bulgarien verbracht hatte, zog er nach der Scheidung mit seiner Mutter wieder zurück nach Wien. Sie bekam die österreichische Staatsbürgerschaft wieder, für den Sohn wurde diese jedoch nicht genehmigt.

Karriere als Chemiker

Nach dem "Anschluss" im März 1938 wurde er vor den Nazis aus seiner Heimat vertrieben: Der 15-Jährige floh über Bulgarien in seine Wahlheimat USA, wo ihm Pflegeeltern den Besuch einer High School in Newark und der University of Wisconsin ermöglichten. Bereits im Alter von 21 Jahren promovierte er in organischer Chemie, doch statt einer akademischen Karriere an der Universität schlug der junge Forscher einen ungewöhnlichen Karrierepfad ein: Er forschte für die Firma Syntex in Mexiko, was sich bald in vielerlei Hinsicht bezahlt machen sollte und ihm Weltruhm einbrachte.

Djerassi war in Mexiko nämlich gleich an zwei Durchbrüchen entscheidend beteiligt, über deren Zustandekommen man in Djerassis vierter und allerletzter Autobiografie "Der Schattensammler" (Haymon 2013) viel Aufschlussreiches erfährt: Zum einen gelang ihm mit seinem Team die erste künstliche Herstellung des Hormons Cortison, wodurch dessen Massenproduktion möglich wurde. Wenig später schaffe er mit seinen Mitarbeitern die Synthetisierung des Sexualhormons Norethisteron.

Die "Mutter der Pille"

Das wiederum bildete die chemische Grundlage für die Pille, die Djerassi zusammen mit den Bostoner Pharmakologen Gregory Pincus und John Rock entwickelte. Er selbst bezeichnete sich deshalb als "Mutter der Pille" (so auch der Titel seiner ersten Autobiografie): Denn Djerassi hatte die chemischen Voraussetzung eines oralen Verhütungsmittels für Frauen geschaffen. Die deutsche Bezeichnung "Antibabypille" lehnte er übrigens strikt ab, weil die Pille nicht gegen Babys gerichtet sei, sondern für Frauen entwickelt wurde.

Ab 1952 begann dann Djerassis steile akademische Karriere: Nach einer Lehrtätigkeit an der Wayne State University in Detroit erhielt er 1959 eine Professur an der renommierten Stanford University in Kalifornien. Als Forscher brachte es der Workaholic auf mehr als 1000 wissenschaftliche Veröffentlichungen und so gut wie alle wichtigen wissenschaftlichen Auszeichnungen sowie weltweit gut 30 Ehrendoktorate.

Ursprünglich hatte Djerassi den Plan, auch noch im Alter von hundert Jahren als Professor in Stanford zu lehren, überlegte es sich dann aber doch anders. Der Chemiker hatte sich von der rein naturwissenschaftlichen Forschung abgewandt und beschäftigte sich mehr und mehr mit Fragen rund um die gesellschaftlichen Auswirkungen biomedizinischer Forschung, insbesondere mit der von dieser ermöglichten Trennung von Sex und Reproduktion.

"Intellektueller Bigamist"

Dazu kamen aber auch die künstlerischen Interessen des "intellektuellen Bigamisten" (so Djerassi über Djerassi): Mit seinem Vermögen gründete er auf einer Ranch in der Nähe von San Francisco eine Art Künstlerrefugium, dem er den Namen SMIP gab. Die Abkürzung stand zum einen für "sic manebimus in pacem" ("so werden wir in Frieden bleiben"), aber auch für "Syntex made it possible".

Das dazugehörige "Djerassi Resident Artist Program" sowie die Djerassi-Stiftung unterstützte in den vergangenen Jahrzehnten rund 2000 Maler, Musiker, Schriftsteller und Bildhauer. Mit einem Teil seines restlichen Vermögens sammelte Djerassi Kunst. Weil seine erste Frau gegen Schiele war, entschied er sich für Paul Klee, von dem er mit über 150 Werken eine der größten Privatsammlungen besaß, die er zur Hälfte dem Museum of Modern Art in San Francisco und der Albertina in Wien vermachte.

Von "Science" zur "Fiction"

Auch Djerassi selbst wurde zum Grenzgänger zwischen den "zwei Kulturen": Nach Kurzgeschichten und Gedichten debütierte er 1989 mit "Cantors Dilemma" als Romancier. Mit 66 Jahren fing das Leben von Carl Djerassis also noch einmal neu an und blieb doch auch dem früheren treu: Im viel beachteten Romandebut geht es um einen Krebsforscher, der für seine Entdeckung den Nobelpreis erhält – eine der wenigen Auszeichnungen, die Djerassi verwehrt blieb, der mit siebzig nach und nach sein Labor in Stanford auflöste und 2002 emeritierte.

Nach "Cantors Dilemma" folgten drei weitere Romane mit Themen aus der Welt der Wissenschaft: "Das Bourbaki Gambit", "Menachems Same" und "NO". Gemeinsam mit "Cantors Dilemma" bilden sie eine Tetralogie, für das Djerassi eine eigene Genrebezeichnung erfand: "Science-in-Fiction".

Damit nicht genug, wandte sich Djerassi – mittlerweile achtzig – auch noch der Dramatik zu und schrieb etliche Theaterstücke, in denen es ebenfalls meist um Wissenschaft geht. In vielen der Texte sind etliche Themen des eigenen Lebens eingearbeitet: etwa die Fragen rund um die Pille und Sex im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit ("Unbefleckte Empfängnis"), seine Heimat(losigkeit) oder seine Identität als säkularer "Jude" – die Anführungszeichen stammen übrigens von Djerassi selbst.

Schwieriges Verhältnis zu Wien

Als Chemiker sei er Amerikaner, meinte Djerassi, seine künstlerische Entfaltung als Autor sah er hingegen als "Stempel, den meine Kindheit in Wien in mir hinterlassen hat. Der hat sich sehr spät ausgewirkt." Nach Wien kehrte Djerassi erstmals in den 1950er-Jahren zu einem biochemischen Kongress zurück. Es sollte aber bis 1992 dauern, ehe er das erste Mal zu einem Vortrag nach Wien eingeladen wurde.

Bis zu diesem Zeitpunkt gab es nur noch drei andere europäische Länder, aus denen er noch keine Einladung erhalten hatte, wie er in "Der Schattensammler" schreibt, nämlich Albanien, Malta und Portugal – "Monaco, San Marino und Andorra nicht mitgezählt". Sein Verhältnis zu seiner Geburtsstadt, aus der er vertrieben wurde, hatte sich in den letzten Jahren immerhin stark verbessert.

Djerassi erhielt die österreichische Staatsbürgerschaft, kaufte sich eine Wohnung in Wien, das neben San Francisco und London zu seinem dritten Wohnsitz wurde. Zahlreiche Ehrungen des offiziellen Österreich blieben – spät aber doch – nicht aus, und Djerassi zeigte sich seinerseits sehr großzügig: indem er etwa einen Teil seiner Klee-Sammlung der Albertina vermachte.

Eine Djerassi gewidmete Briefmarke brachte die verbesserte Beziehung 2005 auf den Punkt: "Geboren - vertrieben - versöhnt" heißt es da, auch wenn Djerassi in einem Interview für den "STANDARD" klarstellte: "Mit einer Heimat, aus der man vertrieben wurde, kann es keine völlig Versöhnung geben." "Versöhnt" bedeutete für Djerassi nicht "vergeben" oder "vergessen", sondern nur, "dass es weitergeht".

In der Nacht von Freitag auf Samstag ging das überreiche Leben dieses Renaissance-Menschen zu Ende. Carl Djerassi erlag mit 91 Jahren in San Francisco einem Krebsleiden. (Klaus Taschwer, derStandard.at, 31.1. 2014)