Alt genug ist sie noch nicht, dennoch wünschen sich viele Ungarn, die das System Orbán nicht mehr ertragen, sehnsüchtig ein dramatisches Fegefeuer radikaler Rache im Stil der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt. Sie möge endlich kommen und alle Eskapaden des autoritären Regimes blutig bestrafen.

Heute, Montag, ist es so weit. Angela Merkel besucht für fünf Stunden Budapest. Doch von Europa in Gestalt der starken deutschen Kanzlerin zu erwarten, das störrische Sorgenkind Ungarn in demokratisch liberale Verlässlichkeit zurückzuholen, ist undemokratisch, ein gefährlich infantiler Irrglaube. Das nämlich können die Ungarn nur selber tun, Demokratie als verordnetes Exportgeschenk kann und darf nicht funktionieren. Das Land braucht keinen neuen Vormund, es braucht eigene Stimme und Verantwortung, eine Bereitschaft, einander zu hören und sich zu einigen, den Neubeginn einer längst überfälligen inneren Versöhnung. Europa kann da nur vorsichtig assistieren.

Immerhin: Die Zugehörigkeit des Landes zur Europäischen Union und zur Nato garantiert einen relativen Frieden mit allen Nachbarländern, in denen es überall starke ungarische Minderheiten und traditionell schwelende, bittere Konflikte gibt. Das ist ein unschätzbar hoher Wert. Ein sich selbst zerfleischendes Jugoslawien darf es in Europa nicht noch einmal geben. Alles andere aber müssen die Länder und Regionen selber erledigen. Aufgaben ohne Ende stehen auf der Tagesordnung, nicht nur auf der ungarischen. Wäre das Land mit all seinen Nachbarn verlässlich versöhnt, dann würde sich auch im Inneren viel politischer Hass endlich verabschieden.

Das Ende nationaler Politik

Europa kann Ungarn helfen, doch erfolgreich nur dann, wenn Ungarn selbst seine Mitverantwortung für Europa übernimmt. Wir leben in einer Welt, die mit jedem Tag eine national beschränkte Politik unmöglicher macht. Alle Zonen der Erde sind wie ein Teppichgewebe verstrickt und vernetzt. Die Klimaerwärmung macht den hungernden Eisbären in der Arktis zu einem engen Verwandten des Holländers, der sich vor dem steigenden Wasserspiegel des Meeres fürchtet. Ihre Sorgen sind identisch. Zusammenkrachende Banken ignorieren Landesgrenzen mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie das Unwetter und die Zugvögel. Keinerlei Nationalpolitik kann sie daran hindern. Die benachbarte Ukraine kämpft um eine souveräne Selbstbestimmung und wird dabei auf fatale Weise immer wehrloser zum Spielball einer übermächtigen und dazu noch ratlosen Außenwelt.

Der Terror in Paris hat es auf barbarische Weise vor aller Augen demonstriert: Algerien, der Jemen und der Irak liegen mitten in Paris, Frankreich ist ein Teil der arabischen Welt. Doch die Reaktion auf das Entsetzen stiftet auch Hoffnung. Überall auf dem Globus identifizieren sich unzählige Menschen mit einer winzigen Zeitung, die ausgelöscht werden sollte und nun im Akt internationaler Sympathie Botschaften sendet wie nie zuvor. Selbst die neue Welle fanatischer Kritik an ihr macht sie noch stärker. Im Bösen wie im Guten also gilt: Innenpolitik ist längst schon überall auch Außenpolitik, Außenpolitik Innenpolitik. Wir können nicht nur lernen voneinander, wir müssen das tun. Verantwortung ist längst schon grenzenlos.

Die deutsche Kanzlerin sollte ihre beschränkten Möglichkeiten nutzen und versuchen, den verlorenen Sohn in das Lager der europäisch Konservativen zurückzuholen. Dazu aber muss sie ihre Finger in die offenen Wunden legen, Demokratieabbau beklagen, europäische Toleranz, Einwanderungsrecht, freie Medien und unabhängige Gerichte einfordern, die Verwendung europäischer Gelder transparent und streng überprüfen und alle Korruption scharf bekämpfen. Einfach wird das nicht, schließlich sind die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Ungarn mehr als stabil und beidseitig wichtig. Warum politisch verderben, was wirtschaftlich rollt und gedeiht? Die Erwartungen sind gewaltig, doch viel spricht dafür, dass herzlich wenig geschehen wird. Der Besuch selbst wertet Orbán auf, ein paar kritische Andeutungen werten ihn ab, alles bleibt, wie es ist.

Manch ein Ungar gerade auch unter den National-Konservativen wird wehmütig bedauern, dass es im eigenen Land keine Figur wie diese Angela Merkel gibt, die in ihrer Aura das komplette Gegenteil zu Viktor Orbán verkörpert, sie ist vorsichtig vermittelnd, er dagegen polarisiert aggressiv, sie liebt die langatmige, umsichtige Verzögerung, er den vorschnellen Übergriff. Ungarische Politik könnte die verhaltenen Tugenden der Kanzlerin gut gebrauchen, der jetzt aufkeimende Widerstand ist noch ohne Gesicht und Klarheit. Zahlreiche Demonstrationen konkurrieren miteinander, sie können sich noch auf keinen gemeinsamen Nenner einigen. Das Bild ist verwirrend. Die deutsche Besucherin wird sich die Augen reiben. (Wilhelm Droste, DER STANDARD, 2.2.2015)