Nahaufnahmen aus dem ersten Jahr einer freien Schule in New Jersey: Protagonistin Lucy in Amanda Rose Wilders bemerkenswertem Langfilmdebüt "Approaching the Elephant".

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"Bitter Lake" - eine weit ausholende Annäherung an Afghanistan.

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Vier junge Leute fahren mit einem Geländewagen durchs peruanische Hochland. Mit dabei haben sie einen Beamer, eine aufblasbare Leinwand und den Film von Wendy, der in Lima nur eine Woche lang in zehn Sälen lief und insgesamt rund 3500 Zuschauer erreichte. Nun wollen die Filmemacherin und ihre drei Begleiter ihr Werk buchstäblich selbst unters Volk bringen, bei freiem Eintritt auf öffentlichen Plätzen zeigen. Aber der Plan geht nicht auf: Das abendliche Spektakel des Leinwandaufblasens zieht mehr Leute an als der Film selbst.

Joanna Lombardis zweiter Spielfilm Solos/Alone lieferte mit dieser Erzählung ein schönes Bild für eine der Problemlagen des heutigen Kinos, die auch Filmfestivals zwangsläufig beschäftigen. In Rotterdam stellt man Bewegtbilder natürlich primär noch einem im Kino vor der Leinwand versammelten Publikum vor. Aber man bietet Filmschaffenden neuerdings auch an, ihre fürs Festival selektierten Arbeiten über das Video-on-demand-Label Tiger Release zu vertreiben. Nicht nur bei solchen Initiativen fungiert der Riesenfestivaltanker Rotterdam immer noch als erstaunlich wendiger Vorreiter.

"Film" zeigte sich in diesem 44. Festivaljahrgang - im Übrigen der letzte, den Rutger Wolfson als künstlerischer Leiter verantwortet - außerdem in den vielfältigsten Formen: Der US-Indie-Vielarbeiter Nathan Silver etwa hat für sein jüngstes, in den 1990ern in einer leicht dysfunktionalen Selbsthilfekommune angesiedeltes Impro-Drama Stinking Heaven ein altes Videoformat wiederbelebt.

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Sein Kameramann Adam Ginsberg wiederum setzte auch Britni Wests Debüt Tired Moonlight auf flirrendem, verwaschenem 16-mm-Material ins Bild. Und die US-Kamerafrau Amanda Rose Wilder machte ihre Dokumentarfilmaufnahmen auf MiniDV - aber nicht nur, weil sie sich für Schwarz-Weiß entschieden hat, wirkt ihr bemerkenswertes Debüt Approaching the Elephant wie Direct Cinema aus den Sixties:

Wilder begleitet das erste Jahr in der Teddy McArdle Free School in New Jersey. Sie ist dabei, wenn die Kinder und Erwachsenen, die gemeinsam diese Schule bilden, sich ihre ersten verbindlichen Regeln geben. Sie sieht und hört zu, wenn sie damit beginnen, Konflikte zu verhandeln und zu lösen. Und ebenso, wenn solche Meetings harsch oder auch verzweifelt an Grenzen stoßen.

Wilder bleibt dabei auf Augenhöhe, sie enthält sich einer Parteinahme - und schildert am Ende doch nichts weniger als die Komplexität eines großen Menschheitsprojekts: die Herstellung eines von gegenseitigem Respekt getragenen, friedlichen Miteinanders, einer Demokratie auf der Ebene eines Mikrokosmos.

Geopolitischer Brennpunkt

Der britische Journalist Adam Curtis bedient sich eines anderen Zugangs und hat einen sehr viel größeren Zusammenhang im Blick: Bitter Lake ist der Titel seiner umfangreichen Montage aus vielfältigstem BBC-Archivmaterial, welche um Afghanistan als geopolitischen Brennpunkt kreist. Der Titel bezieht sich auf ein historisches Treffen von US-Präsident Franklin D. Roosevelt mit dem saudischen König Abdulaziz, das 1945 am Great Bitter Lake (Suezkanal) stattfand.

Aber das ist nur eines von unendlich vielen Puzzlestücken, die Curtis zu einer Analyse zusammenfügt, die auch nur scheinbar bei US-Ingenieuren und einem Staudammprojekt in Südafghanistan 1946 anfängt und mit dem Terror der IS heute aufhört.

In einem energetischen Kurzvortrag hatte Curtis vor der Projektion vehement gegen Vereinfachungen und ein journalistisches Storytelling plädiert, das an den überkommenen Einteilungen in "gut" und "böse" festhalte - sein Bitter Lake löste diese Ansage auf beeindruckende Weise ein. Produziert hat Curtis den 135 Minuten langen Videoessay übrigens für das BBC-Online-Tool iPlayer - die Uraufführung im Kino erfolgte nur ausnahmsweise.

Großes Wirtschaftskrimikino

Am Festival blieb trotzdem noch Platz für gutes, altes, großes Kino auf der Höhe der Zeit: Im Rahmen der wiederbelebten Programmschiene Critics' Choice wurde unter anderem Christoph Hochhäuslers Die Lügen der Sieger gezeigt: ein mit ausladenden Kamerabewegungen souverän hingestellter und musikalisch kongenial unterstrichener Politthriller aus der deutschen Gegenwart, in dem sich ein ambitionierter Magazinjournalist (Florian David Fitz) im Netz einer Intrige verfängt.

Und als Abschlussfilm war am Samstag J. C. Chandors nüchterner Wirtschaftskrimi A Most Violent Year zu sehen: Oscar Isaac und Jessica Chastain kämpfen darin im Jahr 1981 in New York um Erhalt und Ausbau ihrer Heizöl-Lieferfirma - und um die Frage, was die geeigneten Methoden sind, um gegen gewalttätige Übergriffe der mafiosen Konkurrenz vorzugehen. Chandor (Margin Call, All Is Lost) gelingt nicht zuletzt der Entwurf eines "power couple", das bis zuletzt für Überraschungen gut ist und schon einen Vorschein auf die "Reaganomics" liefert. Diesem Rotterdam-Programmpunkt ist auch hierzulande ein Kinostart (ab 20. März) schon sicher. (Isabella Reicher aus Rotterdam, DER STANDARD, 2.2.2015)