Thomas Schmidt ist wissenschaftlicher Assistent an der School of Journalism and Communication der University of Oregon. In der Etat-Kolumne "Ein Fall für die Wissenschaft" schrieb er zuletzt über:

Was ist überhaupt noch Journalismus?

Kastration und Komik im US-Wahlkampf

Digitale Grobheiten: Persönlichkeitsprofile von Problempostern

Mit der Definition von Journalisten in digitalen Zeiten beschäftigte sich in dieser Kolumne etwa Roman Hummel:

Warum trotz Posts, Blogs und Twitter nicht alle Journalisten sind

Die Aufregung war groß, als die "New York Times" es ablehnte, nach dem Terroranschlag gegen "Charlie Hebdo" Mohammed-Karikaturen der Satirezeitschrift zu veröffentlichen. Leser beschwerten sich über die "unglaublich feige" Entscheidung, waren "extrem enttäuscht" und forderten mehr Engagement, um die Pressefreiheit zu verteidigen. "Wie viele Menschen müssen kaltblütig erschossen werden," schrieb Marc Cooper, ein Journalismusprofessor an der renommierten University of Southern California, in einem Facebook-Eintrag, "bevor Ihre Zeitung entscheidet, das abzudrucken, was die Mörder provoziert hat? Anscheinend sind 23 Opfer inklusive 11 (sic!) Todesopfern nicht genug." Der Professor war nicht schlecht erstaunt, als er tatsächlich eine persönliche Antwort vom "New York Times"-Chefredakteur bekam. "Lieber Marc, ich schätze Deine Selbstgerechtigkeit", schrieb Dean Baquet und beendete den Eintrag mit "Arschloch".

Die Ausfälligkeit von Baquet ist weniger interessant als die Frage, warum die "Times" und einige amerikanische Medienunternehmen (Associated Press, CNN, Fox News) keine Karikaturen veröffentlichen wollten während die meisten europäischen Zeitungen voll davon waren. Immerhin ist die "Times" ja nicht irgendeine Zeitung, sondern versteht sich als "newspaper of record", also als Leitmedium. Auffallend war auch, dass Online-Medien wie Buzzfeed, Huffington Post und Gawker im Unterschied zu den "klassischen" US-Medien sehr wohl Cartoons zeigten.

"Unnötige Beleidigung"

Selbst das erste Cover von "Charlie Hebdo" nach den Anschlägen war in der "New York Times" nicht zu sehen. Baquet blieb bei seiner Linie, zuletzt auch in einem "Spiegel"-Interview: "Diese Art von Humor ist eine unnötige Beleidigung, ohne dass ich das kritisieren will. Der Humor erfüllt nicht die Standards der "Times". Wir können die Cartoons beschreiben, aber zum Verständnis dessen, was in Paris geschehen ist, war es für unsere Leser nicht nötig, sie zu sehen."

Diese Antwort gibt nicht nur einen Einblick in die Blattlinie der "Times", sondern veranschaulicht auch eine zentrale Eigenart der amerikanischen Journalismuskultur: Meinungsfreiheit gut und schön, aber bei Beleidigungen hört sich der Spaß auf. Das hat ja auch zur Folge, dass in amerikanischen TV-Serien, Filmen und Pop Songs keine Schimpfwörter zu hören sind. Sex, Gewalt und obszöne Sprache werden ins Kabelfernsehen und in die Gegenkultur ausgelagert. Die Ursachen dafür liegen teils in den puritanischen Wurzeln, teils in der mittlerweile stark verankerten Political Correctness.

Unter Druck

Die Entscheidung der "Times" hat auch damit zu tun, dass amerikanische Zeitungen auf der Meinungsseite zwar explizit Stellung beziehen, im Nachrichtenteil aber tunlichst darauf achten, eine neutrale Position einzunehmen. Deshalb hält Baquet nichts vom Argument, dass ein Abdrucken der Karikaturen Solidarität mit den getöteten Journalisten in Paris zeige.

Diese Position der Traditionshäuser kommt durch Online-Medien allerdings immer stärker unter Druck. Buzzfeed und Konsorten setzen auf personalisierte Nachrichten, eine bildlastige Aufmachung und generell weniger Zurückhaltung bei kontroversiellen Themen. Dementsprechend machte Buzzfeed die "Selbstzensur" der Mainstream-Medien auch gleich zum Thema. Das Eintreten für Redefreiheit sei natürlich ein Motiv hinter der aggressiveren Berichterstattung der Online-Medien, meint Medienjournalist Mathew Ingram. Man dürfe aber auch nicht vergessen, dass Kontroversen viele Klicks bringen.

Stimmungsumschwung

Unterstützung für das Abdrucken der Karikaturen zeichnet sich derzeit jedenfalls in der öffentlichen Meinung ab. Laut einer aktuellen Umfrage des Pew Research Centers sagen 6o Prozent der Amerikaner, dass die Veröffentlichung von Mohammed-Karikaturen in "Charlie Hebdo" okay war. Das deutet auf einen Stimmungsumschwung hin. Noch vor neun Jahren meinten 60 Prozent der Befragten in einer ähnlichen Umfrage, dass es unverantwortlich sei, derartige Cartoons zu drucken.

Angesichts der anhaltenden öffentlichen Kritik wurde auch innerhalb der "New York Times" Kritik an der Entscheidung des Chefredakteurs laut. Margaret Sullivan, die Leserbeauftragte, hatte zwar ursprünglich die Blattlinie unterstützt, meinte dann aber, dass die "Times" das erste "Charlie Hebdo"-Cover nach den Anschlägen abdrucken hätte sollen. "Auch wenn die Karikatur eine kleine Gruppe von Lesern beleidigen könnte, ist sie weder schockierend noch unnötig beleidigend," schrieb Sullivan. "Sie hat unzweifelhaft Nachrichtenwert." (Thomas Schmidt, derStandard.at, 4.2.2015)