Graz - Denken Sie eigentlich noch so wie vor 15 Jahren? Würden Sie heute tun, was Sie damals getan haben? Auch wenn nicht, empfinden Sie sich vermutlich dennoch immer noch als dieselbe Person. Aber was macht Sie so sicher, dass ihr aktuelles Ich mit dem alten identisch ist? - Fragen wie diese, die nach einem Diskurs im philosophischen Elfenbeinturm klingen, haben tatsächlich viel mit unserem praktischen Leben zu tun, beispielsweise mit der Rechtsprechung. Um die im Laufe der europäischen Geistesgeschichte entwickelten Identitäts- und Subjektkonzepte für den aktuellen Diskurs fruchtbar zu machen, unterzieht der in Graz lehrende Philosoph Udo Thiel in einem vom Wissenschaftsfonds FWF geförderten Projekt die unterschiedlichen Theorien insbesondere des 18. Jahrhunderts einer kritischen Analyse und Bewertung.
Um eine Person für ihr Handeln verantwortlich machen zu können, muss sich diese ihrer selbst als Ausführende einer Tat, als Subjekt, bewusst sein. Identität, Subjekt, Selbstbewusstsein sind Begriffe, ohne die Fragen nach Verantwortung und Schuld ins Leere laufen. Es geht also um philosophische Grundbegriffe und daran geknüpfte Vorstellungen, die weitreichende Folgen für das Leben haben. Zum großen Thema wurden sie im 18. Jahrhundert mit der Aufklärung. Neue Aktualität erfuhr die Identitätsdiskussion in den letzten Jahren mit der modernen Hirnforschung, deren Erkenntnisse das fragile Konstrukt ins Wanken zu bringen scheinen.
Trifft der Mensch seine Entscheidungen - wie es manche Hirnforscher nahelegen - in Wahrheit erst dann, wenn die Weichen im Gehirn schon längst gestellt sind? Wenn aber bewusste Entscheidungen nicht von der Person selbst getroffen werden, von wem oder wovon dann? Und wer oder was trägt für die Konsequenzen letztlich die Verantwortung? Müssen wir "Schuld" grundsätzlich neu denken oder gar aus dem Kanon der sinnbehafteten Begriffe streichen?
Es war zur Blütezeit der Aufklärung, als viele der heute noch tragenden Fundamente des abendländischen Denkens gelegt wurden. Einer ihrer großen Theoretiker war John Locke, der mit seiner damals unerhörten Überzeugung, dass die persönliche Identität nicht an eine unsterbliche Seele geknüpft sei, nicht nur die Theologen brüskierte. Identität sei, so der große Aufklärer, gar nicht an eine materielle oder immaterielle Substanz gebunden, sondern ausschließlich an das Bewusstsein.
Um für meine Handlungen verantwortlich zu sein, muss ich mir diese also durch mein eigenes Bewusstsein selbst zurechnen können. Locke hat zwischen den Begriffen Person und Mensch unterschieden: Als Menschen seien wir nicht mehr als ein biologischer Organismus, zur Person aber gehöre das Selbstbewusstsein.
"Diese Theorie war revolutionär, weil sie das Ich subjektiviert, indem es sich selbst durch das Bewusstsein seiner Gedanken und Handlungen erschafft", sagt Thiel. Während das Ich traditionell mit der Seele identisch gesehen wurde, entzieht sich für Locke das Wesen der Seele unserer Erkenntnisfähigkeit.
Identität als Illusion
Eine weitere Radikalisierung brachte der schottische Aufklärer und Empirist David Hume in die Debatte ein: Er scheint zu negieren, dass es so etwas wie Identität über die Zeit hinweg überhaupt gibt. Da sich der Mensch permanent verändere, sei sie schlicht eine Illusion. "Das, was wir Geist nennen, ist nichts als ein Haufen oder eine Sammlung verschiedener Perzeptionen, die durch gewisse Relationen untereinander verbunden sind; und fälschlich wird angenommen, dem Geist komme vollkommene Einfachheit und Identität zu." Ein übergeordnetes Ich lasse sich auf dieser Basis natürlich nicht finden.
Thiel lässt auch etliche heute fast vergessene Denker des 18. Jahrhunderts zu Wort kommen. So etwa den englischen Naturwissenschafter, Theologen und Philosophen Joseph Priestley, der mit seiner Leugnung der Immaterialität der Seele und anderen theologischen und politischen Freigeistereien dem damaligen Establishment so unerfreulich zuwider dachte, dass er letztlich nach Amerika emigrieren musste.
Wie Locke ging er davon aus, dass allein das Bewusstsein von Gedanken und Handlungen Identität erzeugt und ein relevantes Kriterium für Verantwortlichkeit darstellt. "Ein Ansatz, der bis heute kontrovers diskutiert wird und durch die Debatten um die Hirnforschung wieder hochaktuell geworden ist", sagt Thiel.
Mit gewissen materialistischen Theorien, die sich auf die Erkenntnisse der Hirnforschung stützen, werde in einem neuen Kontext eine Diskussion fortgeführt, die schon vor Jahrhunderten die Gemüter erhitzte. "Den philosophischen Diskurs um das Subjekt hat man bereits in den 1770er-Jahren geführt, er wurde dann aber von anderen Themen längere Zeit in den Hintergrund gedrängt."
Thesen ohne Beleg
"Ein Problem bei der aktuellen Diskussion ist, dass Naturwissenschafter bisweilen mit philosophischen Thesen aufwarten, die sich aus ihrer Forschung aber nicht herleiten lassen." Allerdings gebe es auch in der neueren Philosophie selbst Strömungen, die Identität - ähnlich wie Hume - mehr oder weniger als eine Illusion betrachten, auch wenn dies jeweils anders begründet wird: Zum einen sind das Denker, die sich hauptsächlich an den Naturwissenschaften orientieren, zum anderen die eher an Literatur und Kunst ausgerichteten Poststrukturalisten.
"Ich halte beide Ausrichtungen für extrem und schwer zu rechtfertigen", sagt Thiel. "Denn Begriffe wie Identität oder Selbstbewusstsein sind grundlegend für unser Denken und können nicht einfach wegreduziert werden."
Vielmehr müsse man an die Geistesgeschichte anknüpfen: "Philosophen wie Locke oder Kant haben uns gezeigt, dass bestimmte Begriffe unser Denken und unsere Erkenntnis überhaupt erst möglich machen." Seine umfassende Rekonstruktion der Debatten und Theorien um diese Begriffe in ihrem historischen Kontext liefert eine solide Basis für eine Art der Auseinandersetzung, die der Bedeutung des Themas gerecht werden kann. (Doris Griesser, DER STANDARD, 4.2.2015)