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Attentate haben eine hohe Symbolkraft. Das tatsächliche Risiko, einem Anschlag wie jenem im September 2001 in New York zum Opfer zu fallen, wird aber erheblich überschätzt.

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"Wir haben heute die Situation, dass die Reichen nicht einmal mehr versuchen zu rechtfertigen, warum sie so reich sind", sagt der deutsche Risikoforscher und Techniksoziologe Ortwin Renn.

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Die größten Ängste von US-Bürgern.

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STANDARD: In Ihrem jüngsten Buch "Das Risikoparadox" schreiben Sie, dass wir uns vor dem Falschen fürchten. Derzeit zählt die Angst vor Terror wohl zu den überschätzten Risiken ...

Ortwin Renn: Terroranschläge haben eine hohe symbolische Kraft. Doch die Wahrscheinlichkeit eines Europäers, Opfer eines Terroranschlags zu werden, ist wesentlich geringer, als etwa durch Pilzvergiftung zu sterben. Kritisch am Terror ist, dass jeder zufällig betroffen sein kann. Und Zufälligkeit hat etwas sehr Bedrohliches: Ich kann mir dann gut vorstellen, ich könnte das Opfer sein, genauso, wie ich mir vorstellen kann, im Lotto zu gewinnen. Das kann zu problematischen Reaktionen führen. Mein Kollege Gerd Gigerenzer hat ausgerechnet, dass nach den Anschlägen in New York 2001 viele nicht mehr das Flugzeug benutzt haben und stattdessen das Auto. Folglich sind dreimal mehr Personen im Autoverkehr gestorben als bei den Anschlägen selbst.

STANDARD: Welche anderen Risiken überschätzen wir?

Renn: Wir überschätzen sehr häufig alles, was wir als künstlich betrachten, wenn wir anderen, oft uns unbekannten Personen oder Institutionen vertrauen müssen, weil wir keine Erfahrung mit der Gefahr haben. Vor einem halben Jahr gab es eine Umfrage in der Schweiz zu den größten Gesundheitsrisiken. An erster Stelle kam dort die Pestizidbelastung von Lebensmitteln – noch vor Autounfällen, Übergewicht und Herzinfarkt. Das könnte nicht weiter weg sein von der Wirklichkeit. Natürlich sind Pestizidrückstände nicht gesund, aber weder in der Schweiz noch in Österreich stirbt irgendjemand an Pestizidrückständen – wenn er nicht bewusst vergiftet worden ist. Diese Risiken sind heute sehr gut bekannt und stark reguliert. Auch bei den langfristigen Statistiken, die mögliche Krebserkrankungen erfassen, sehen wir, dass von 100.000 Österreichern 26.000 an Krebs sterben, 11.000 davon an den vier Volkskillern – Rauchen, zu viel Trinken, unausgewogene Ernährung und zu wenig Bewegung. Nur 26 sterben an allen anderen chemischen Zusatzstoffen in unseren Lebensmitteln.

STANDARD: Warum fällt es uns schwer, Risiken richtig einzuschätzen?

Renn: Unterschätzte Risiken sind häufig solche, die alltäglich und wenig sensationell sind – wie zu wenig Bewegung. Außerdem unterschätzen wir Risiken, die eine komplexe Ursachenkette haben. Zwei Aspekte machen es uns schwer, diese Risiken richtig einzuschätzen. Das eine ist, dass viele Risiken nicht linear sind – lange passiert nichts und dann passiert plötzlich alles. Das Zweite sind stochastische Risiken, das heißt, es gibt Wahrscheinlichkeiten, aber keine Sicherheit, dass sie eintreten. Das begegnet uns bei individuellen Risiken wie dem Rauchen – jeder kennt einen 90-Jährigen, der raucht wie ein Schlot und sich bester Gesundheit erfreut. Es gibt also immer jemanden, der die Ausnahme kennt, und natürlich glauben wir, dass wir selbst auch diese Ausnahme sind.

STANDARD: Welche Risiken unterschätzen wir?

Renn: Es gibt drei Typen von Risiken, die für uns besonders kritisch sind. Das eine sind individuelle Lebensrisiken - das sind die vier Volkskiller, die wir zwar kennen, aber sie machen mittlerweile fast zwei Drittel aller frühzeitigen Todesfälle in Österreich und den meisten Industrieländern aus. Das Zweite sind kollektive Risiken. Diese sind zwar nicht sehr wahrscheinlich, wenn sie aber eintreten würden, hätten sie außergewöhnlich kritische Konsequenzen – wie drastische Auswirkungen des Klimawandels und Risiken, die sich aus mangelnder politisch-sozialer Steuerung ergeben: die Finanzkrise oder Korruption. Als Drittes gibt es die sogenannten Modernisierungsrisiken, die mit dem schnellen Wandel von Gesellschaften einhergehen. Es gibt ein hohes Maß an Sinnverlust und eine ungleiche Verteilung der Ressourcen. Das führt zu der im Moment sehr aktuellen Unzufriedenheit in vielen Ländern der Welt. Das kann zu Fundamentalismus bis hin zu Terrorismus führen. Da haben radikale Angebote ein leichtes Spiel.

STANDARD: Bei einem Vortrag, den Sie kürzlich in Wien gehalten haben, sagten Sie, dass die globale Ungleichheit auch die Verteilung von Risiken betrifft ...

Renn: Leider ist die ungleiche Verteilung von Lebenschancen ein Kennzeichen unserer heutigen Lebenswelt. Das sieht man zum Beispiel an den vorzeitigen Todesfällen: In Österreich sterben von 10.000 Menschen rund 500 unter 65 Jahren. In afrikanischen Ländern sind es mehr als 5000 – da liegt ein Faktor zehn dazwischen.

STANDARD: Was sind die Ursachen dieser Ungleichheit?

Renn: Wenn man sich die Geschichte ansieht, hat es stets ungleiche Gesellschaften gegeben. Aber alle Gesellschaften haben sich darum bemüht, eine Rechtfertigung dafür zu bieten, warum es den einen besser und den anderen schlechter geht. Das waren religiöse Rechtfertigungen oder solche aufgrund von eigener Leistung, familiärer Situation bis hin zu Gottes Gnade. Die besondere Situation ist heute, dass die sehr Reichen nicht einmal mehr den Versuch unternehmen zu rechtfertigen, warum sie so reich sind. Und wenn wir heute sehen, dass ein amerikanischer Spitzenmanager 137-mal so viel verdient wie seine eigene Angestellte, wird es schwierig, eine Rechtfertigung zu finden, die diese Größenordnung auch nur in irgendeiner Weise plausibel machen könnte. In dem Moment aber, wo die Rechtfertigung fehlt, haben diejenigen, die unten sind, keinen Grund mehr, das weiter zu akzeptieren. Das kann zu Apathie führen, aber auch zu einem Aufstand, zu Rückzug in den Fundamentalismus und im Extremfall zu Terrorismus.

STANDARD: Wir haben jetzt lange darüber gesprochen, warum Risiken vermieden werden sollten. Gibt es auch etwas Positives am Risiko?

Renn: Absolut. Wenn ich ein Risiko bewusst eingehe, um Chancen oder Erfahrungen damit zu verbinden, ist das sehr positiv. Wenn eine Gesellschaft versucht, alle Risiken auf null zu setzen, wäre sie nicht mehr wandlungsfähig. Man sagt nicht umsonst, dass die Kehrseite des Risikos die Chance ist. Wenn man sich zum Beispiel neu verliebt, ist es auch immer ein Risiko. (Tanja Traxler, DER STANDARD, 4.2.2015)