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Bereits von weitem sieht man die steinerne Tulpe von Bogdan Bogdanović. Sie wurde erst 1966 errichtet.

Foto: Reuters/Bronic

Jene, die dem serbisch-orthodoxen Glauben angehörten, mussten sich in ihren Dörfern sammeln und zu Fuß den Marsch in den Tod antreten. Den faschistischen Ustascha ging es darum, in ihrem Staat systematisch Serben und Juden umzubringen. Die meisten von ihnen wurden mit der Fähre ans Flussufer der Save gebracht und dort ermordet. Einige mussten zuvor die Gruben selbst ausheben, in die sie später fielen. 

In Donja Gradina wurden bisher neun Gräberfelder entdeckt. Niemand weiß genau, wie viele Menschen hier ermordet wurden. Etwa 500 Körper wurden in einer Grube verscharrt, erzählt Dejan Motl von der Gedenkstätte auf der bosnischen Seite. Erst 1961 wurden die ersten Grabungen unternommen. Als in den Jahren 1983 und 1985 die Save einen sehr niedrigen Wasserstand hatte, tauchten Knochen im Flussbett auf, erzählt Motl.

85.000 Personen

Das Konzentrationslager Jasenovac wurde von den Ustascha dort errichtet, wo die Flüsse Save, Una, Strug und Lonja zusammenfließen, sodass es nur von einer Seite aus zugänglich war und die Gefangenen nicht fliehen konnten. Die Verbrechen sollten von niemandem gesehen werden. Motl nennt keine Zahlen. "Aber bereits die kleinste angenommene Anzahl der Ermordeten ist sehr hoch", erklärt er. Sie liegt bei 85.000 Personen, deren Namen auf der kroatischen Seite im Gedenkzentrum zum ehemaligen KZ aufgelistet sind. 

Die Anzahl der Opfer ist auch schwierig festzustellen, weil die Namen der serbischen Dorfbewohner oft nur in Kirchenbüchern vermerkt waren, die im Krieg verbrannt wurden. Das Land hier an der Grenze ist flach, der Boden sumpfig. Bereits von weitem sieht man die steinerne Tulpe von Bogdan Bogdanović. Sie wurde erst 1966 errichtet. Das Erinnern an die Massengewalt im Zweiten Weltkrieg war im kommunistischen Jugoslawien nach dem Krieg nicht opportun. Man fürchtete Spannungen. Tito selbst kam niemals nach Jasenovac, dem "Auschwitz des Balkan".

Gespaltene Sicht

Auch heute spaltet nicht nur die Sicht auf die Balkankriege der 1990er-Jahre die Gesellschaften in den Nachfolgestaaten Jugoslawiens, sondern auch jene auf den Zweiten und den Ersten Weltkrieg. Antifaschistische Traditionen treffen auf faschistische, ethnische und religiöse Identitäten werden zur Abgrenzung und Aufrechnung herangezogen. Es ist schwierig, in all dem ordnende Koordinaten zu finden, an denen man sich in Staaten orientieren kann, die heute sehr fragil und intransparent und von Nationalismen durchdrungen sind. 
Im Oktober letzten Jahres trafen einander Geschichtelehrer aus Deutschland, Frankreich, Bosnien-Herzegowina und Kroatien, um darüber zu sprechen, wie man die Kriege und die Massengewalt vermitteln kann. Das Projekt wurde vom Historischen Museum in Sarajevo, der Jugendinitiative für Menschenrechte in Kroatien, der Buchenwald-Gedenkstätte und der Gedenkstätte zum "Großen Krieg" (Erster Weltkrieg) in Péronne, Frankreich, koordiniert und vom Französisch-Deutschen Jugendwerk unterstützt.

Rassengesetze in Kroatien

Die zwei Weltkriege hinterließen – je nachdem, aus welcher Familie man kommt – jeweils andere Spuren und andere innere Konflikte. In den 1980ern wurden in Jugoslawien dann die kommunistischen Narrative von Nationalisten infrage gestellt. Aus der Sicht mancher Nachkommen von Tschetniks und Ustascha sah der Zweite Weltkrieg völlig anders aus, als aus der Sicht der Angehörigen von Partisanen-Familien. Mithilfe der alten Nationalismen wurden dann die neuen aufgeladen. 

Ivo Perković von der Gedenkstätte in Jasenovac auf der kroatischen Seite kann davon erzählen. In der Gedenkstätte wird mit Schülern über den Fascho-Staat in Kroatien (NDH-Staat 1941–1945) , die damaligen "Rassengesetze", das Leben im KZ, den Prozess der Dehumanisierung der Opfer und den Widerstand gesprochen. Der weitaus größte Teil der Opfer, die namentlich bekannt sind, waren Serben (46.685), 16.131 namentlich bekannte Roma wurden hier ermordet, sowie 12.982 Juden. Aber auch Kroaten (4209) und Muslime (1113) fielen den Ustascha zum Opfer.

Wenige Verurteilungen

Perković erzählt, dass es oft davon abhänge, welche Familiengeschichte die Schulkinder hätten, wie sie den Unterricht auffassten. Verpflichtend sei der Besuch in Jasenovac für kroatische Schüler nicht. "Es hängt nur von den Lehrern ab, ob sie hierherkommen", so Perković. "Manche Eltern beschweren sich bei der Schule, und manche Kinder werden plötzlich krank", erzählt er. Perković berichtet auch von Anschuldigungen, man würde für serbische Interessen arbeiten. Manchmal gebe es sogar Drohungen per Mail. 

 In Jugoslawien kam es nach dem Zweiten Weltkrieg zu einigen wenigen sofortigen Verurteilungen der KZ-Verantwortlichen. Andere Verbrecher aber entkamen, wie etwa Dinko Šakić, der Kommandant des KZ Jasenovac im Jahr 1944. Er floh nach Argentinien und wurde dort Textilfabrikant. Erst 1998 wurde er an Kroatien ausgeliefert und verurteilt. Er zeigte keine Reue und verfügte, dass er nach seinem Tod in einer Ustascha-Uniform verbrannt werden sollte. Šakić starb 2008.

Kleine braune Männchen

Auf der Geschichtelehrer-Reise wurde auch thematisiert, dass in den ehemaligen Nazi-Staaten Deutschland und Österreich die Konfrontation mit Schuld und Verantwortung der Bevölkerung jahrzehntelang dauerte, die Kriegsverbrecherprozesse auf massive Widerstände stießen und nur zu einem ganz geringen Teil Gerechtigkeit schafften. In den 1970ern wurden noch vor allem Hitler und die SS verdammt, wie der deutsch-französische Historiker Nicolas Moll analysiert. "In Deutschland und Österreich dauerte es lange, bis Hitler nicht mehr als "Betriebsunfall" betrachtet wurde und so getan wurde, als wären plötzlich kleine braune Männchen aus dem Weltall herabgekommen, die das Dritte Reich geführt haben", so Moll. Auch die Strafprozesse gegen Nazi-Größen umfassten nur einen sehr kleinen Teil der Verbrechen. Weniger als ein Prozent der in Auschwitz tätigen SS-Leute wurden von einem deutschen Gericht verurteilt, so Moll.

"Es hängt sehr viel von Personen ab. Die Zeit allein bringt gar nichts", sagt Moll. "Entscheidend sind engagierte Leute wie etwa der Staatsanwalt Fritz Bauer, der in der Bundesrepublik in den 60er-Jahren den Frankfurter Auschwitz-Prozess initiierte." Auch das Jugoslawien-Tribunal in Den Haag hat einiges erreicht. So gab es wenige Jahre nach dem Genozid in Srebrenica erste Urteile, während im ehemaligen KZ in Dachau noch in den 1950er-Jahren Flüchtlinge lebten. Doch auch das Jugoslawien-Tribunal konnte bisher nur einen Teil der Verbrechen, die während der jüngsten Kriege in Kroatien, Bosnien-Herzegowina und Kosovo verübt wurden, aufklären. Und auch gegen das HaagerTribunal gibt es massive Widerstände. Einige Verantwortliche für die Vertreibungen in Prijedor wurden verurteilt, einige sitzen noch auf wichtigen Posten. In Prijedor wurden zu Beginn des Bosnien-Kriegs (1992–1995) tausende Bosniaken und Kroaten vertrieben und ermordet. Diese ethnischen Säuberungen sind auch im Prozess gegen Ratko Mladić ein Thema.

Massengewalt in Omarska

Eines der Lager, in dem viele Nichtserben ermordet wurden, war Omarska, heute steht dort die Stahlfabrik von ArcelorMittal. Die Überlebenden des Lagers können an manchen Tagen den Ort besuchen. Zu Mirsad Duratović in das Dorf Bišćani kamen die Mörder am 20. Juli 1992. Seine Familie wurde aus dem Haus herausgeholt, die Frauen und Männer getrennt, die Männer erschossen, das Haus geplündert. Mirsad war damals 17 und wurde gemeinsam mit zwei anderen Minderjährigen als menschliches Schutzschild durchs Dorf getrieben. Allein am 20. Juli wurden 260 Menschen ermordet, weil sie keine Serben waren. Etwa Mirsads Vater, seine Großeltern, seine Tante, sein Onkel, sein Cousin. In Omarska wurden etwa 600 Personen ermordet. Die meisten wurden mit Gegenständen erschlagen, manche mit Elektrokabeln erwürgt. 5000 bis 6000 Leute wurden durch das Lager geschleust. Nachdem Herr Duratović eine Stunde im ehemaligen Lager Omarska, in der heutigen Fabrik ArcelorMittal, von den Verbrechen erzählt hat, kommen Wärter, die zum Gehen auffordern.

62.000 Bosniaken

Wie kann man an diese Massengewalt erinnern, ohne dass die Erinnerung die Volksgruppen nicht entzweit? Wie können die Leute Empathie für die andere Seite empfinden? Wie können sie heute und in Zukunft zusammenleben, obwohl die Massengewalt von politischen Gruppen im eigenen Land unterstützt wurde? Laut dem Forschungs- und Dokumentationszentrum in Sarajevo wurden 95.000 Personen identifiziert, die im Bosnien-Krieg getötet wurden. Davon waren etwa 62.000 Bosniaken, und von diesen waren etwa 30.000 Zivilisten. Diese Fakten anzuerkennen ist eine Sache, eine andere ist der politische Wille, aufeinander zuzugehen.

 Der Geschichtelehrer Samir Hasanagić meint: "Wir müssen lernen, dass alle Opfer Opfer sind und dass alle unser Mitgefühl verdienen." Hasanagić ist Bosnier, unterrichtet aber an einer orthodoxen Schule in Zagreb. "Ich bin in erster Linie ein Mensch, dann ein Lehrer und dann ein Bosniake", sagt er. "Es geht um Gewalt gegen Menschen, egal, welche Menschen. Jedes Opfer hat einen Namen. Und wir haben eine große Verantwortung, diese Stätten der Massengewalt zu besuchen und das Wissen zu vermitteln."

Brüderlichkeit und Einheit

Hasanagić findet es gut, dass bei der Reise Gedenkorte aus dem Zweiten Weltkrieg und dem Balkankrieg besucht werden. Nicht weil es eine tatsächliche Verbindung zwischen den beiden Kriegen gibt, sondern weil so eine Kontinuität politisch ausgedacht und damit manipuliert wurde. "Wir haben früher gern über die Einheit und Brüderlichkeit im Zweiten Weltkrieg geredet", erzählt er. "Aber wir haben nicht ausreichend über die Massengewalt gesprochen, die damals stattgefunden hat." 

 Tatsächlich wurden ethnisch aufgeladene Konflikte, Massentötungen und Vertreibungen des Zweiten Weltkriegs im kommunistischen Jugoslawien vielfach unter den Teppich gekehrt. "Der Zweite Weltkrieg wurde aber dann beim Zusammenbruch von Jugoslawien politisiert", erklärt Hasanagić. "Da wurde versucht, die neuerlichen Verbrechen mit den Verbrechen im Zweiten Weltkrieg zu rechtfertigen. Das war wie ein Teufelskreis. Da haben die Leute gesagt: Das, was wir tun, ist nichts im Vergleich zu dem, was ihr im Zweiten Weltkrieg getan habt."

Instrumentalisierung des Kriegs

Auch der französisch-deutsche Historiker Nicolas Moll, der in Sarajevo lebt und das Seminar leitet, meint, dass "der Zweite Weltkrieg verwendet wurde, um den Bosnien-Krieg zu schüren. Er wurde als Teil der Propaganda instrumentalisiert." So habe es bereits in den 1980ern Stimmen in Serbien gegeben, die sagten, dass "die Ustascha uns wieder umbringen werden". Auch wurde oft die Belagerung von Sarajevo (1992–1995) mit der Besatzung durch die Nazis (1941–1945) gleichgesetzt, als ginge es wieder um den gleichen Faschismus. Doch diese Gleichsetzung erkläre weder das eine noch das andere. 

 Die Idee der Wiederholung als Erklärung für den Bosnien-Krieg sei "eine Vereinfachung", so Moll. "Manche Leute sagen dann, dass alle 50 Jahre hier ein Krieg stattfindet. Aber ein solcher Fatalismus führt in die Irre ", so der Historiker. Nach Massendeportationen und systematischer Vernichtung würde aber sehr wohl Angst vor Rache und fantasierte Revanche eine Rolle im Bewussten oder Unbewussten spielen.

Kampf ums Erinnern

Der Kampf ums Erinnern wird in Bosnien-Herzegowina insbesondere von Nationalisten als eine Art Aufrechnungskrieg geführt. Nach dem Motto: "Wenn du deine Opfer anerkannt haben willst, musst du zuerst meine anerkennen." Indirekt wird dabei nicht nur das Ausmaß der Verbrechen verhandelt, sondern auch die Schuld am Krieg. Manche denken, dass eine "aufgeteilte Verantwortung für den Krieg" am gerechtesten wäre. Jedenfalls würde sie wohl dem Wunsch eines Ausgleichs, einer Balance näherkommen. Die Kultur des permanenten Aushandelns von Verantwortlichkeiten hat insbesondere in Bosnien-Herzegowina Tradition und lässt manchmal vergessen, dass man sich Fakten nicht "ausmachen" kann. Wichtig ist aber offensichtlich, größeres Verständnis für die jeweils andere Seite. Der Geschichteprofessor Danilo Kovač aus Banja Luka meint: "Im letzten Krieg wurden Verbrechen von allen drei Nationen begangen, und wenn wir eine Versöhnung wollen, dann müssen alle drei Nationen auf gleicher Basis behandelt werden." Er war positiv überrascht, dass bei dem Seminar seine Anmerkung, dass auch die Verbrechen an den Serben in Sarajevo während des Kriegs besser dokumentiert und erinnert werden sollten, positiv aufgenommen wurde. "Im Historischen Museum ist bislang nichts über dieses Thema zu finden. Es braucht dazu auch noch Forschung", so Kovač.

Denkmal für Kazani

Seit einigen Jahren gibt es in der bosnischen Hauptstadt eine Initiative, die sich dafür einsetzt, dass die Verbrechen in Kazani, in der Nähe von Sarajevo, mit einem Denkmal erinnert werden. Angehörige der bosnischen Armee haben dort 1992 und 1993 serbische Zivilisten getötet und in eine Felsspalte geworfen. Senada Jusić, eine Volksschullehrerin aus Sarajevo, findet es etwa wichtig, dass die Fakten über die serbischen Opfer in Sarajevo unterrichtet werden. "Sarajevo soll als Hauptstadt vorangehen und beginnen, der Opfer der anderen Seite zu gedenken. Es soll Denkmäler für alle Opfer geben", fordert sie. "Und wir müssen in der Schule den Unterschied zwischen Geschichte und Politik lehren", fügt sie hinzu. Die Lehrer müssten mit Unterrichtsmaterialien auf den Unterricht über die 1990er-Jahre vorbereitet werden. 

 Die Reflexionen der europäischen Geschichtelehrer werden jedenfalls weitergehen, dieses Jahr wird man sich mit Massengewalt im Ersten Weltkrieg in Frankreich und mit Massengewalt im Zweiten Weltkrieg in Deutschland beschäftigen. (Adelheid Wölfl aus Sarajevo, DER STANDARD, 4.2.2015)