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Mit Skepsis wird in China die Kartoffel gesehen. Viele verbinden sie mit schlimmen Erinnerungen, und mit Stäbchen steht die Knolle oft auf Kriegsfuß. Vielleicht muss sich das bald zwangsläufig ändern.

Foto: Reuters/Jon Woo

Peking - Chefkoch Ran Longjun überwacht täglich die Vorbereitungen seiner Küchengehilfen im Restaurant "Zur kleinen Kartoffel" in Peking. Gewaschen liegen klein gewachsene Kartoffeln vor ihnen. Mit Schweinefleisch zubereitet, steht die "kleine Kartoffel" ganz oben auf der Speisekarte. "80 Prozent der Besucher essen mittags unser Signaturgericht", sagt Ran.

Der Gastronom mit 100 "Kleine Kartoffel"-Restaurants ist heute Vizevorsitzender von Chinas Gaststättenverband und trägt den Ehrentitel "Held der Arbeit". Ran war seiner Zeit voraus, als er der als Armeleuteessen gering geschätzten Kartoffel vor zwanzig Jahren ein kulinarisches Zuhause gab. Heute liegt er im Trend: Chinas Wirtschaftsplaner erhoben zu Jahresbeginn die dicke Knolle in den Adelsstand eines weiteren Hauptnahrungsmittels, indem sie die Kartoffel in den Bund der Edelfeldfrüchte Reis, Getreide und Mais aufnahmen. Die Agrarzeitung Nongmin Ribao spricht bereits von der "dritten Revolution" in der Ernährungskette des Milliardenvolkes - nach der Ergänzung der uralten Kulturpflanze Reis durch Getreide und Mais.

Als auch die Kartoffel in China eintraf, schlug sie zwar Wurzeln, führte aber nur ein Randdasein auf den Speisetischen. Zu viele bittere Erinnerungen sind mit der Kartoffel verbunden. Alte Bauern denken an die Hungersnöte in den Sechzigerjahren zurück, Millionen einst städtische Jugendliche an ihre Landverschickung in der Kulturrevolution. Die Kartoffeln waren oft das einzige aufklaubbare essbare Gewächs.

Kartoffeln reichen nicht

Auch aus anderen Gründen fremdelten die Chinesen mit der Kartoffel, die sich anders als Reis, Weizennudeln und Dampfknödel nur schwer mit Stäbchen greifen lässt. Chefkoch Ran hat vieles versucht, um sie nicht nur als Gemüsebeilage schmackhaft zu machen - vergebens: "Zum Kartoffelgericht bei uns bestellen unsere Kunden oft noch eine Schüssel Reis oder Nudeln hinterher. Sonst fühlen sie sich nicht satt."

Dieses Gefühl soll den Chinesen abgewöhnt werden. Parteizeitungen priesen die Kartoffel als "strategische Sättigungsbeilage", wodurch aber der Verdacht aufkam, dass die Regierung Probleme bei der Ernährung der Milliardenbevölkerung habe. Offizielle Dementis folgten prompt, doch die Sorgen sind berechtigt.

Der Reis- und Getreideverbrauch des Landes liege derzeit bei jährlich 600 Millionen Tonnen, schreibt die Weltbank. 2020 werde er auf 670 Millionen und 2030 auf 700 Millionen Tonnen steigen. Bisher konnte China die Ernährung ihrer Bevölkerung weitgehend allein bewerkstelligen. Doch der Preis dafür ist hoch, wie die Volkszeitung schrieb: Die Bauern setzen ein Drittel des weltweiten Düngers, also riesige Mengen an Pestiziden ein. Die Böden seien verseucht, die Wasservorräte erschöpft. Und seit drei Jahren steigen die Getreideimporte.

Auch Staatspräsident Xi Jinping warnte vor dem Tag, an dem sich China nicht mehr überwiegend selbst versorgen könne. In einer jüngst veröffentlichten Rede sagte er, dass weltweit pro Jahr 300 Millionen Tonnen Handelsgetreide angeboten werden. Das sei gerade mal die Hälfte, die China pro Jahr verbraucht. "Selbst wenn wir im Krisenfall alles aufkaufen würden, kämen wir nur ein halbes Jahr damit aus", sagte Xi.

Die Lösung soll die nur wenig Wasser und Dünger verbrauchende Kartoffel sein. Mit der Verdoppelung der Anbauflächen will sich China innerhalb von zehn bis zwanzig Jahren wieder stabile Nahrungsgrundlagen schaffen.

"Grüne Nahrung"

Dann müsste den Chinesen, die pro Kopf nur 31,3 Kilogramm Kartoffeln im Jahr essen - die Russen kommen vergleichsweise auf 170 -, nur noch die dicke Knolle schmackhaft gemacht werden. Chefkoch Ran will seine Landsleute mit modernen Werbekampagnen statt mit politischer Propaganda überzeugen. Schließlich seien Kartoffeln "grüne Nahrung", vitamin- und eiweißreich und ohne Düngerrückstände. Nicht frittiert oder gebraten kann mit ihnen auch abgenommen werden. Ob diese Argumente bei den Chinesen ziehen, wird sich zeigen.

Mit Skepsis wird in China die Kartoffel gesehen. Viele verbinden sie mit schlimmen Erinnerungen, und mit Stäbchen steht die Knolle oft auf Kriegsfuß. Vielleicht muss sich das bald zwangsläufig ändern. (Johnny Erling aus Peking, DER STANDARD, 4.2.2015)