Sie warten. Eines Tages wird er kommen und die Straße reparieren, sagen sie – Arnold Schwarzenegger, der berühmteste Österreicher, den sie kennen. Und wenn er dann da ist, muss er den Weg zwischen Tschingistai und Uruntschaika wieder flottmachen, mit Geld und Maschinen und seinen Muskeln: die Österreicherstraße im Altai, dem höchsten Gebirge Kasachstans. 57 Kilometer am Ende der Welt, gebaut von Kriegsgefangenen aus der k. u. k. Monarchie.
Manchmal quillt stundenlang Staub, dick und schwer. Er legt sich auf Mund und Augen, er pickt an Brillengläsern und an den Kameralinsen. Kein Fenster darf man hier öffnen, das Atmen fällt schwer genug. Meterhoch schwillt der Staub hinter Allradautos und windschiefen Lastwagen, die sich mit dröhnenden Motoren die Passstraße entlangschleppen und endlos Schiefersteine zerdrücken, die den grauen Staub freilassen.
Man fährt hier durch, 500 Kilometer Umweg im Osten Kasachstans nahe der chinesischen Grenze bis zum Marmor-Pass, oder man nimmt die Österreicherstraße. Sehr viel kürzer, aber auch gefährlicher. "Nichts für schwache Nerven", steht in einem Reiseführer. Ein Relikt des Ersten Weltkriegs, längst vergessen in Europa, nicht aber von den Dorfbewohnern hier auf den Höhen des Altai-Gebirges.
Für Fjodor Scherschnjow, Elektriker und Bauer aus Katon-Karagai, sind die Österreicher ein wichtiges Stück Geschichte. "Zu uns in die Kosakensiedlung kamen Anfang September 1916 300 Personen", erzählt der passionierte Landeskundler, als wäre es gestern gewesen. Seine Großmutter hat ihm von den Österreichern erzählt und deren beste Freundin Natalia Iwanowna Matwejewa, die im Lazarett in Katon-Karagai als Wäscherin gearbeitet hatte. Die Österreicher sind Kriegsgefangene. Und sie werden bald nach ihrer Ankunft mit dem Bau einer Gebirgsstraße beginnen, die bis heute ihren Namen trägt.
Kasachstan gab es damals nicht. Die Gefangenen aus dem k. u. k. Österreich-Ungarn landen nach einer kleinen Weltreise von der Ostfront in der Ukraine und Rumänien tausende Kilometer weiter weg im Generalgouvernat Turkestan, wie es damals hieß; einem Gebiet in Zentralasien, das Teile des heutigen Kasachstan, Usbekistan, Turkmenistan und Kirgisistan umfasst. An einem einzigen Tag hat die Offensive des russischen Generals Alexej Brussilow im Juni 1916 die Verteidigungslinien der Österreicher durchbrochen. Nach zwei Monate langen Gefechten steht die Niederlage der Mittelmächte fest: eine Million Soldaten kamen um, 400.000 wurden gefangen genommen – eine Katastrophe für Österreich-Ungarn. Nur ein kleiner Teil der Gefangenen kommt nach Turkestan und ein noch kleinerer dann nach Katon-Karagai ins Altai-Gebirge. Die Österreicher werden zuerst in Zügen an die Wolga, in den Ural und nach Sibirien gebracht. In Omsk endet die Eisenbahn, die Reise geht weiter auf Lastkähnen und Dampfern über den Irtusch nach Turkestan, bis die Gefangenen schließlich in Gusinaja landen, 90 Kilometer von Katon entfernt. Den Rest der Wegstrecke müssen sie zu Fuß gehen.
Ein Schlagbaum versperrt den Weg, 40 Männer in Militärkleidung, die sich als Förster vorstellen, halten Wacht. Ob wir hier wirklich durch wollen, fragen sie ungläubig. Der Anführer hat Mitleid, vielleicht ist es auch nur eine Frage der Ehre: Fremde lässt man nicht einfach ziehen. Er besteht darauf, uns in seinem Geländewagen zu transportieren. Dreieinhalb, vier Stunden geht die Reise, den Burchat-Pass hinauf auf 2.100 Meter und wieder hinunter. Dann ist Schluss. Eine eingestürzte Brücke macht die Weiterfahrt auf diesem Teil der Österreicherstraße unmöglich. Als wir zurückkommen, haben die Männer gekocht. Eintopf mit Pferdefleisch und Kartoffeln, dazu Kymys – Stutenmilch.
Die kasachischen und russischen Archive geben wenig Auskunft über die Erbauer der Österreicherstraße - nichts in Syrjanowsk, in Semipalatinsk oder in Barnaul im heutigen Russland. Nur in Ust-Kamenogorsk (Öskemen), der Hauptstadt der Provinz Ostkasachstan, finden sich manche Namen österreichischer Kriegsgefangener.
Fjodor Scherschnjows eigene Recherchen sind deshalb die plausibelste Quelle. Das Gefangenenlager ist 1916 schnell entstanden. Laut Scherschnjow sind in Katon im Laufe nur eines Monats in der Nähe des Kosakenfriedhofs vier Baracken, ein Wirtschaftsgebäude, ein Lazarett und ein Verwaltungsgebäude errichtet worden. Letzteres steht heute noch. Das Lager war zuerst nicht eingezäunt. Die Bewohner der Kosakensiedlung sollen den österreichischen Gefangenen Werkzeuge und Pferde zur Verfügung gestellt haben.
Ein Teil der Gefangenen rodete zunächst Felder und arbeitete bei der Ernte von Kartoffeln und Getreide mit - der Bedarf des Lagers musste schließlich gedeckt werden. Die Verständigung war schwierig: Die Kriegsgefangenen aus Europa sprachen Deutsch, die Kosaken Russisch. Ende Oktober 1916 bekamen die Gefangenen die Aufgabe, in den Bergen auf 2.000 Meter Höhe Holz zu schlagen. Man hat nicht recht gewusst, wie man die Männer aus dem fernen k. u. k. Reich beschäftigen sollte, glaubt Scherschnjow. Erst wurde ein Weg zur Stelle des Holzeinschlags gebaut. Später wurde dieser Weg ein wenig verbessert, in diesem Zustand existiert er noch heute. Nur einige Brücken, von sowjetischen Soldaten gebaut oder ersetzt, kamen hinzu.
Der Führung der Kosakensiedlung hat dieser neue Weg so gut gefallen, dass den Gefangenen im folgenden Jahr, 1917, vorgeschlagen wurde, gleich eine Straße zum Markakol-See zu bauen. Nur zwei bis zweieinhalb Meter sollte sie breit sein, gerade breit genug für ein Fuhrwerk. Längst war die strenge Disziplin im Lager verschwunden. "Die Kontrolle gab es nur am Anfang in Form der Appelle, und bald wurden auch die Aufrufe unregelmäßig", erzählt Scherschnjow. Aus den Kriegsgefangenen wurden Bauarbeiter, bezahlt von Russland. Etwa 30 von ihnen sollen im Lauf der Jahre an Krankheiten gestorben sein. Sie wurden außerhalb von Katon-Karagai auf einem Stück Land beerdigt, denn die Kosaken erlaubten keine Bestattungen von Fremden auf ihrem Friedhof. Noch bis in die Sechzigerjahre sollen die Kreuze der Österreicher gestanden haben, dann fielen sie zusammen.
Die Karte erregt überall Aufsehen. Von woher man sie hat, wollen die Menschen wissen, manche misstrauisch, alle neugierig. Sie leihen sich die Karte aus, machen Kopien. Es ist, als ob sie zum ersten Mal in einen Spiegel schauen: So sieht das Bergland also aus, vermessen und beschriftet. Bis die Österreicher kamen, hat es keinen Fahrweg zum Markakol-See und seinen umliegenden Dörfern gegeben, nur einen Reiterpfad. Der deutsche Zoologe Alfred Brehm nahm ihn im Sommer 1876 und beschrieb die Reise in seinem Sibirientagebuch.
Die Gegend um die Österreicherstraße ist voller wundersamer Menschen. Zwei Bienenzüchter, die das ganze Jahr über im Wald leben, im Sommer Besuch von den Bären bekommen, im Winter eingeschneit werden bis weit übers Hüttendach und aus Zeitvertreib Victor Hugos "Les Misérables" lesen, zweimal, dreimal. Oder die Mutter und ihr blinder Sohn im Dorf, längst entschwunden in Fantasiewelten: Er erzählt unglaubliche Geschichten über Beria, Stalin und Trotzki; sie, mittlerweile 93, rezitiert "Eugen Onegin", aber kann sich nicht mehr erinnern, dass der Mann neben ihr der eigene Sohn ist.
Der andere zugängliche Teil der Straße ist noch beschwerlicher, stellt sich bald heraus. Vom Marmor-Pass an der chinesischen Grenze, der angeblich auch von den Kriegsgefangenen gebaut worden sein soll, führt die Österreicherstraße nach Uruntschaika. Zwei, vielleicht drei Brücken seien Richtung Bobrowka passierbar, sagen die Leute. Genauer weiß es niemand. Viele im Dorf haben die kürzere Route über die Österreicherstraße noch nie genommen. Karakaba, der Schwarze Kaba heißt der Fluss, der alles mitnimmt - das Vieh und die Brücken. Man muss sich mit zwei Allradfahrzeugen auf den Weg machen, der Sicherheit halber, falls ein Auto liegen bleibt.
Nachts heulen die Wölfe. Man hört sie in den Holzhäusern der Dörfer entlang der Straße. Sechs Fohlen reißen die Raubtiere innerhalb weniger Tage, zwei werden verwundet. Es ist Erntezeit im Altai, die goldene, heilige Zeit für die Menschen, bevor der Winter kommt und alles unter sich begräbt. Was von der Österreicherstraße übrig ist, wird sich dieses Frühjahr zeigen. (Lana Berndl, derStandard.at, 8.2.2015)