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Kann sich wieder um ihre Kinder kümmern: Swetlana Dawydowa.
Sonderlich hübsch ist die Kleinstadt Wjasma, 200 Kilometer westlich von Moskau, nicht. Die Aussicht, die nächsten Wochen die Stadt nicht verlassen zu dürfen schreckt die 36-jährige Swetlana Dawydowa allerdings nicht mehr. Im Gegenteil: Nach zwei Wochen Untersuchungshaft im Moskauer Lefortowo-Untersuchungsgefängnis dürfte sie sich bei ihrer Rückkehr am Mittwoch auch nachts um drei Uhr geradezu glücklich gefühlt haben.
"Ihre Heimkehr ist eine große Freude für die Familie", sagt ihr Ehemann Anatoli Gorlow. Ihr Anwalt Iwan Pawlow nennt die Entlassung aus der U-Haft einen Sieg des gesunden Menschenverstands: "Eine mehrfache Mutter, die stillt, muss zu Hause bei den Kindern sitzen und nicht im Gefängnis", meint er.
Nicht alle in Russland sehen das so: Der Inlandsgeheimdienst hat Dawydowa schließlich als Spionin und Landesverräterin festgenommen. Darauf stehen bis zu 20 Jahre Haft. Der Hausfrau wird dabei ein Anruf an die ukrainische Botschaft im April vergangenen Jahres vorgeworfen, der offenbar von den russischen Behörden abgehört wurde.
Darin berichtete Dawydowa von einem im Sammeltaxi mitgehörten Telefonanruf eines Offiziers. Dieser beklagte sich, dass Soldaten seiner Einheit in Zivil nach Moskau und dann in unbekannter Richtung weiter ins Manöver geschickt werden. Da auch die Garnison einer Militärnachrichteneinheit vor ihrer Haustür von Tag zu Tag leerer wurde, fürchtete Dawydowa, die Soldaten würden heimlich als Freiwillige in die Ukraine geschickt. Sie habe angerufen, um ein Blutvergießen zu verhindern, sagt ihr Ehemann.
Geheimnis oder Gerücht
Offiziell bestreitet der Kreml bis heute, russische Soldaten in die Ostukraine zu entsenden. "Gerüchte", antwortete das Verteidigungsministerium im September auf eine entsprechende Anfrage des letzten in der Duma verbliebenen oppositionellen Abgeordneten Dmitri Gudkow. "Für Gerüchte wird man bei uns noch nicht eingesperrt", sagt dieser nun.
Der Fall Dawydowa ist für den Kreml hochbrisant: Erstens stützt er die These, dass Russland entgegen allen Beteuerungen doch in der Ukraine militärisch involviert ist. Zweitens weckt er Ängste um die dramatische Einschränkung der Bürgerrechte. Die siebenfache Mutter aus der Provinzstadt ist keine Geheimnisträgerin, sie hat keine Geheimhaltungsverpflichtung unterschrieben oder spezielle Recherchen angestellt, sondern einfach nur erzählt, was sie zufällig mitbekommen hat.
Für viele russische Bürger stellt sich nun die Frage, was sie überhaupt noch sagen dürfen. Ist eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte über Missstände in Russland schon ein Landesverrat, fragt der ehemalige Richter Sergej Paschin.
Das öffentliche Echo war daher groß. Innerhalb kurzer Zeit hatten Bürgerrechtler 40.000 Unterschriften für die Freilassung gesammelt. Kremlsprecher Dmitri Peskow musste Stellung nehmen. Wohl auch deshalb gab es das vorläufige Kommando zurück. Die Öffentlichkeit wollte der Kreml nicht verschrecken. (André Ballin aus Moskau, DER STANDARD, 5.2.2015)