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Shin Dong-hyuk, Flüchtling aus Nordkorea, musste weite Teile seiner Biografie revidieren.

Foto: AP/Bott

Es sind keine guten Zeiten angebrochen für die nordkoreanischen Flüchtlinge im Exil: Zuerst musste ihr bekanntester Vertreter, der 32-jährige Shin Dong-hyuk, weite Teile seiner Biografie revidieren, nun hat das nordkoreanische Staatsfernsehen ein Video veröffentlicht, um die vermeintlichen Lügen von Park Yeon-mi bloßzustellen. Noch im Oktober hatte die 21-Jährige bei einer Konferenz in Dublin mit ihrer dramatischen Fluchtgeschichte die Weltöffentlichkeit zu Tränen gerührt. Im Gegensatz zu Shins Fall, dessen Eklat für Nordkorea-Beobachter wenig überraschend kam, hält die Geschichte von Park Yeon-mi noch viel offensichtlichere Ungereimtheiten bereit.

So behauptet sie felsenfest, dass die beste Freundin ihrer Mutter hingerichtet wurde, weil sie einen "James Bond"-Film gesehen hatte. Wenn man anderen nordkoreanischen Flüchtlingen diese Anekdote erzählt, brechen nicht viele vor Unglauben in Gelächter aus. Auch Nordkorea-Forscher halten die Behauptung für mehr als unwahrscheinlich – und dennoch: Zu 100 Prozent auszuschließen ist sie nicht.

Zum zweiten Mal Opfer

Wer Park Yeon-mi, vor allem aber Shin Dong-hyuk als banale Lügner bezeichnet, greift zu kurz. Er tut ihnen nicht nur unrecht, sondern macht auch die Opfer eines totalitären Systems ein zweites Mal zu Opfern. Ihnen sollte ein gewisses Maß an Ambiguität zugebilligt und die Ungereimtheiten ihrer Geschichte immer auch in den Kontext ihrer Biografie gesetzt werden.

Wer eine traumatische Vergangenheit durchleben musste, hat bewiesenermaßen Schwierigkeiten, sie in allen grausamen Details faktengetreu wiederzugeben. Zudem wachsen Nordkoreaner in einem System auf, in dem Lügen Teil des Alltags sind, ja geradezu ein zwingender Schutzmechanismus, um den Repressalien des totalitären Regimes zu entkommen. Kleinere Lügen können einen Vorteil bei der staatlichen Essensverteilung sichern, größere vor einer Haftstrafe bewahren.

Wenige Chancen auf festes Einkommen

In Südkorea werden die Flüchtlinge finanziell unterstützt, sie bekommen für die erste Zeit eine Wohnung und erhalten Vorzüge bei Studienplätzen. Das ist weit mehr, als der südkoreanische Sozialstaat für seine eigene Bevölkerung bereithält. Doch bei den meisten Nordkoreanern, besonders den älteren, tritt nach der Anfangseuphorie bald bittere Ernüchterung ein. Wer nicht bereit ist, sich mit Nebenjobs über Wasser zu halten – und das sind tatsächlich nur wenige –, der hat wenige Chancen auf ein festes Einkommen.

Mit oftmals einer Ausnahme: dem NGO-Sektor. Was liegt denn auch näher, als die Öffentlichkeit als Zeitzeuge über Menschenrechtsverletzungen des Regimes aus erster Hand aufzuklären? Verständlicherweise machen sich viele nordkoreanische Flüchtlinge diese Mission zur Lebensaufgabe, und zwar aus rein intrinsischer Motivation. Fast alle von ihnen haben unter dem Kim-Regime gelitten und wollen nun das Bewusstsein für dessen Gräuel erhöhen.

NGOs brauchen Persönlichkeiten

Erstmals haben sie in ihrer neuen Heimat eine Perspektive, fühlen sich gebraucht, werden von einem internationalen Publikum gehört. In Einzelfällen, etwa bei Park und Shin, steigen sie gar zu regelrechten Berühmtheiten auf, die mit ihren Geschichten unsere Einstellung gegenüber Nordkorea von Grund auf prägen. Zu Konferenzen jetten sie um den Globus, treffen Politiker von Weltformat und werden von Journalisten hofiert.

Die NGOs brauchen solche Persönlichkeiten, um die Geldbörsen der Leute für ihre Spendenkampagnen zu öffnen. Journalisten sind auf ihre Leidensgeschichten angewiesen, damit sie den Gräueln des Kim-Regimes ein Gesicht geben können. Gleichzeitig können sie viele Details nicht gegenchecken, und auch die zusammengesparten Redaktionen haben kaum ausreichend Zeit, jede widersprüchliche Behauptung kritisch zu hinterfragen. Zudem sprechen die meisten Flüchtlinge kein Englisch oder höchstens ein sehr brüchiges. In halbstündigen Interviewslots können einzelne Details auch schon einmal an der Sprachbarriere oder beim Übersetzer hängenbleiben.

Keine Horrorgeschichten über Hungersnot

Diesen Kreislauf sollte man sich in der aktuellen Glaubwürdigkeitskrise nordkoreanischer Flüchtlinge stets vor Augen halten. Und auch kritisch hinterfragen, inwiefern ein solcher Mechanismus das vorhandene Nordkorea-Bild verstärkt. Flüchtlinge, die diesem nicht entsprechen, sind für Fundraiser aus dem humanitären Sektor unbedeutend. Auch Boulevardzeitungen werden sich kaum darum reißen, sie zu interviewen.

Etwa jenen jungen Mann, den ich vor wenigen Monaten in einem Kaffeehaus in Seoul traf, um seiner Geschichte zu lauschen. Bislang lebte er in einer medialen Robinsonade, erzählte mir als erstem Reporter von seinem Leben in Nordkorea. Dieses war in schattierten Grautönen gezeichnet und entsprach so gar nicht dem gängigen Schwarzweißbild.

Fast entschuldigend eröffnete er das Gespräch damit, dass er keine Horrorgeschichten über die Hungersnot liefern könne. Die einzige Erinnerung, die er als damals Zwölfjähriger an die Wirtschaftskrise in seiner Heimatstadt hatte, war der irrwitzige Preisanstieg um das Zweifache bis Dreifache: "Ich war damals sauer, dass ich mir auf dem Heimweg nach der Schule die Süßigkeiten nicht mehr leisten konnte."

"Glaube, dass ich glücklicher wäre"

In Südkorea landete er später zwischen Fritteusen bei McDonald's und hatte da sein Studium bereits hingeschmissen, genauso wie seine Hoffnung auf eine bessere Zukunft. In schlaflosen Nächten hörte er seine inneren Selbstzweifel immer deutlicher. Hat er etwa dafür eine gefährliche Flucht riskiert, später jahrelang als illegaler Flüchtling in China gelebt – nur um in dieser Ellbogengesellschaft für einen Hungerlohn Burger zu braten?

Wir kamen auf die Schlüsselszene des Science-Fiction-Epos "Matrix" zu sprechen, in der der Protagonist zwischen einer blauen und eine roten Pille wählen muss – Symbole für eine wohlige Scheinwelt auf der einen Seite, eine hart zu ertragende Wahrheit auf der anderen. Mittlerweile wisse er natürlich über die Verlogenheit des Regimes, fuhr er fort. Manchmal jedoch frage er sich heimlich: "Was wäre, wenn ich noch in Nordkorea leben würde? Ich glaube, dass ich glücklicher wäre."

Drastisches Auseinanderklaffen

Mehr als 27.000 nordkoreanische Flüchtlinge leben in Südkorea. Jeder von ihnen liefert ein eigenes Mosaikteilchen, aus deren Summe unser Nordkorea-Bild entsteht. Jeder Zeugenbericht speist sich immer auch aus einer ganz individuellen Biografie, weshalb sie nebeneinandergestellt teilweise drastisch auseinanderklaffen. Jemand, der eine vermeintlich friedliche Kindheit erlebt hat und noch während der Pubertät aus Nordkorea flüchtete, hat eine ganz andere Sichtweise auf das Land als jemand, der sein halbes Leben im politischen Arbeitslager verbrachte. Das ist kein Widerspruch. (Fabian Kretschmer, derStandard.at, 6.2.2015)