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Paulus Hochgatterer über den Meistererzähler Ian McEwan (im Bild): "Aufmerksamkeit braucht neben anderen Dingen auch eins - eine gewisse Distanz."

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Von Paulus Hochgatterer erschien zuletzt "Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe" (Deuticke). Der Text ist ein Vortrag, gehalten bei Literatur im Nebel.

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Als Romanschriftsteller steht man vor einem Problem, das Ian McEwan selbst in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit" in Form eines Henry-James-Zitates in einen lapidaren Satz verpackt hat: "Die Hauptaufgabe des Romanciers ist es, interessant zu sein." Genau, das ist ja ganz leicht. Man wohne in einer akzeptablen Gegend, kleide sich gefällig, leiste sich einen guten Friseur und ab du zu eine gepflegte Affäre, tue etwas Formverständnis und Sprachgefühl hinzu, vielleicht sogar einen Schuss Musikalität, und wenn man die Worte richtig zu schreiben vermag, schadet es auch nichts. Am Ende, und dort will ich hin, greife man sich eine Portion aus dem Reservoir an Wissen und Erfahrung, das einem zur Verfügung steht, vermische es mit einem halben Kilogramm Imagination, also Phantasie, und werfe es unter das zuvor Gesagte. Letzteres – Wissen plus Erfahrung multipliziert mit ein wenig Phantasie – nennt man üblicherweise Stoff. Philip Roth schreibt über alternde Literaturprofessoren, Peter Handke übers Pilzesammeln, Alice Munro über Mittelschichtfamilien in Kanada, Richard Yates über das Scheitern und Daniel Kehlmann darüber, dass es nicht nur lustig ist, schnell berühmt zu werden.

Das Gelingen eines Romans, also die Frage, ob er für die Leserin und den Leser interessant ist, hängt ganz überwiegend an der Beziehung des Autors zu seinem Stoff. Es empfiehlt sich, zumindest den Start eines Ballons einmal gesehen zu haben, wenn man übers Ballonfahren schreiben möchte, es empfiehlt sich, zu wissen, wer in kanadischen Mittelschichtfamilien das Essen kocht oder die Kinder zur Schule bringt, wenn man aus diesem sozialen Biotop erzählt, und man sollte selbst vielleicht zumindest einmal mit dem Gesicht im Staub gelegen sein, wenn man meint, vom Scheitern berichten zu wollen. Kurz: Man sollte seinen Stoff beherrschen, wenn man einen Roman beginnt, denn am Ende ist es sowieso immer umgekehrt, man wird vom Stoff beherrscht. Genauer: Deswegen schreiben wir ja Romane, um diese allmähliche Drehung der Gewalt in uns selbst immer wieder zu erleben – am Anfang haben wir es in der Hand, und am Ende schauen wir uns dabei zu, wie wir hundertprozentig ausgeliefert sind, einer narrativen Obsession, einer Geschichte, einem Stoff.

Wenn sich nun jemand wie ich mit viel Akrobatik im Selbstbezug eine Doppelidentität erhält – Schriftsteller auf der einen, Mediziner auf der anderen Seite –, so hat das natürlich neben dem unendlichen Einkommen, dem noch höheren Sozialprestige und der nie versiegenden tiefen Befriedigung durch unablässiges Lindern menschlichen Leids genau einen Grund: Es geht einem nie der Stoff aus. Die Menschen kommen, und es tut ihnen etwas weh, körperlich oder seelisch; sie bluten, konkret oder metaphorisch; man hat ihnen etwas gebrochen, einen Arm, den Kiefer oder das Herz. Die Geschichten der Kranken, im formalisierten Sinn die Krankengeschichten, sind der narrative Fundus des schreibenden Arztes, die Schatzkiste und manchmal die letzte Reserve. Apropos letzte Reserve. Klarerweise schreiben auch Ärzte wie ich übers Radfahren, über Sex, über Bienenzucht, über Mittelschichtfamilien, über die Berge und über das Meer. In der Regel tun wir das in untadeliger Souveränität unserem Stoff gegenüber, und das gelingt uns in Wahrheit vor allem, weil es ganz hinten, knapp vor dem völlig Unbewussten, eine Sicherheit gibt: Wenn mir nichts mehr einfällt, schreibe ich einen Arztroman. Genauer: den Arztroman.

Vor ein paar Jahren kam nun mein Freund Klaus zu mir, Kulturjournalist und als bekennender Hypochonder jemand, der Ärzte verehrt, und legte mir ein Buch auf den Tisch. "Da, lies das", sagte er, und da man als Schriftsteller seinen Kulturjournalisten-Freunden gehorchen soll, begann ich zu lesen.

Der nächste Fall war eine Craniotomie bei einer dreiundfünfzigjährigen Grundschullehrerin mit einem Meningeom. Der (...) Tumor saß über der motorischen Hirnrinde und rollte sauber vor den Sonden des Rhoton-Dissektors her – gleich darauf war das wuchernde Gewebe restlos entfernt. Sally brachte die Arbeit zu Ende, während Perowne nebenan eine lumbale Laminektomie an einem vierundvierzigjährigen übergewichtigen Mann durchführte, der als Gärtner im Hyde-Park arbeitete. Er musste zehn Zentimeter subkutanes Fett durchtrennen, ehe er die Wirbelsäule freilegen konnte, und dass der Mann auf dem Tisch herumschwabbelte, wenn Perowne nach unten drückte, um am Knochen entlang zu schneiden, war auch nicht gerade hilfreich.

Am Schluss legte ich das Buch zur Seite, "Saturday" von Ian McEwan, und wusste: Meine letzte Reserve hatte sich soeben aufgelöst. Den Arztroman hatte ein anderer geschrieben, sachkundig, souverän sowohl in der einschlägigen Terminologie als auch in der Sicht der Beziehung, die Ärzte zum Beispiel zum überschüssigen Fett ihrer Patienten haben. Den Arztroman hatte ein Nichtarzt geschrieben. Dass es sich bei Henry Perowne, der einen Hauptfigur des Buches, um einen Neurochirurgen handelte, um einen Hirndoktor, somit also um einen Vertreter meiner Spezies, und bei Baxter, der anderen, um jemanden, der mit den psychischen Auswirkungen seiner Chorea Huntington, einer degenerativen neurologischen Erkrankung, nicht zurechtkommt, also um einen Vertreter meiner Patienten, hätte es nicht gebraucht; ich verstand die Botschaft auch so.

Kurze Zeit später kam einer meiner Oberärzte zu mir und sagte, er habe da ein hochinteressantes Thema für eine unserer internen Fortbildungen, es gehe eigentlich um ein literarisches Werk, das aber einen klinischen Zustand so eindrucksvoll darstelle wie kein Fachbuch, es sei von einem Engländer, Ian McEwan. Ob ich den Autor kenne. Persönlich nicht, sagte ich. Ich wunderte mich nicht mehr.

Der Kollege sprach über den Liebeswahn, das De-Clérambault-Syndrom, mit psychiatrischem Scharfsinn und über "Liebeswahn", das Buch, mit Begeisterung, vor allem über die Ballonszene, mit der die Verstrickung der Figuren beginnt. Fünf Personen versuchen einen Heißluftballon, in dessen Korb sich ein Kind befindet, am Boden zu halten. Der Auftrieb des Ballons und die Kraft des Windes sind zu stark, der Ballon hebt wieder ab, einer der Männer schafft es nicht, rechtzeitig loszulassen, stürzt aus großer Höhe zu Boden und stirbt. Er ist Arzt, aber das hat mit Sicherheit keine Bedeutung.

Die Ballonszene aus "Liebeswahn" gehört ohne Zweifel zu meinem persönlichen Katalog großer Szenen der erzählenden Literatur, ebenso jene zeitlupenartig auf beinahe dreißig Seiten gedehnte Passage aus "Saturday", in der der kranke Baxter mit seinem Freund Nigel in Henry Perownes Familie eindringt, sich erst anschickt, Perownes Tochter Daisy zu vergewaltigen, und dann durch eine geniale Kombination aus Lyrik und Betrug außer Tritt gebracht wird. Trotzdem, und das verstehen Sie jetzt vielleicht, existierte in meiner Basisbeziehung zu Ian McEwan von Anfang an ein kleiner Rest von Ambivalenz.

Apropos Ambivalenz: Im Gegensatz zu anderen Menschen war mir persönlich das gleichzeitige Vorhandensein gegensätzlicher Haltungen, Tendenzen oder Gefühle nie verdächtig, ganz im Gegenteil. Verdächtig ist mir die Welt dort, wo sie eindeutig zu sein vorgibt, beim vorgestreckten Zeigefinger, im Gleichschritt oder beim doppelt unterstrichenen Endbetrag. Vielleicht liegt das an meiner Kurzsichtigkeit, daran, dass ohne optische Krücke die Dinge für mich seit jeher unscharf und mehrdeutig waren, vielleicht ist das aber auch nichts anderes als eine romantische Rationalisierung.

In der Suche nach nachvollziehbaren Zugängen zu McEwan stieß ich jedenfalls auf seinen kleinen, aber brillanten Essay "Die lange Nacht des Schriftstellers" aus dem Jahr 2012 (so glaube ich zumindest). Er beschreibt darin jene apokalyptische Zeit der Apostasie, des vermeintlichen Abfalls von der Literatur, die einen zwangsläufig ereilt, sobald man einen Roman fertiggestellt hat.

Wie ein spätviktorianischer Geistlicher, der im Dunkeln über seinen Glaubenszweifeln schwitzt, kenne auch ich Momente, in denen mein Gottvertrauen in die Literatur ins Wanken und bis an den Rand des Zusammenbruchs kommt. Ich ertappe mich bei der Frage: Bin ich überhaupt ein Gläubiger?

So beginnt der Text und hinterlässt denjenigen, der sich nach Eindeutigkeit sehnt und weiß, dass McEwan auf der anderen Seite keine Gelegenheit auslässt, sich zum Atheismus zu bekennen, wohl ein wenig irritiert. Ambivalenzaffinere Zeitgenossen hingegen freuen sich und fühlen sich vermutlich verstanden. Fehlende Gewissheit ist das Wesen des Glaubens, worauf auch immer er gerichtet ist. Außerdem geht es hier ja um Literatur und nicht um Religion.

In der Folge lässt sie McEwan jedenfalls dahinziehen, diese Phase der profunden Gleichgültigkeit, der glücklosen narrativen und poetischen Leere, die lediglich immer wieder von einer seltsamen Sehnsucht nach Realität durchrauscht wird. Aber auch die vergeht.

Monate können verstreichen, und erst dann verschiebt sich etwas, rücken die Dinge wieder an ihren Platz. Es beginnt mit einem Schubs. (...) Es braucht nichts Brillantes zu sein. Es muss lediglich eine gewisse Art imaginativer Wärme verströmen.

Es wird doch alles gut, der Prozess der Genesung hat begonnen, die Speicher füllen sich wieder, und die Rückkehr zum Glauben ist in Gang gebracht; im gegenständlichen Essay passierte das mittels zweier Kurzgeschichten, die für McEwan jüngst lieferten, was gefordert war, einen Schubs imaginativer Wärme. Es brauche keine Offenbarung, sondern lediglich Denkanstöße, sagt er, und unter Anwendung einer Erinnerung an Nabokov begeben wir uns dorthin, wo wir sowohl als Lesende wie auch als Schreibende am liebsten sind, in eine Zone literarisch-libidinöser Begegnung.

"Liebkost die Details", habe Nabokov immer wieder gesagt, mit rollendem R und einer Stimme wie die raue Liebkosung einer Katzenzunge, "liebkost die göttlichen Details!", und er selbst, McEwan, nehme den Rat gerne an, denn:

Indem man die Details, die kleinen Formulierungen, genießt, ist man nicht nur eins mit dem, der sie verfasst hat, sondern auch mit allen anderen, die daran Gefallen finden. In diesem Akt des Erkennens öffnen sich die Grenzen des Selbst ein wenig.

Erkenntnis und Selbsterweiterung bei der Lektüre, Einswerdung mit dem Autor und mit den Mitlesenden. Dankbar fühlt sich der bibliophile Mensch erkannt. Am Ende des Aufsatzes illustriert McEwan diesen Vorgang, indem er uns eine kleine Episode aus seiner Kindheit erzählt:

Ich weiß noch, wie ich einst als Kind ein Detail in einem Roman liebkoste.

Er, der Dreizehnjährige, liest L. P. Hartleys im Jahr 1900 spielenden Roman "The Go-Between" und wird für eine Weile eins mit Leo, dem ebenfalls dreizehnjährigen Protagonisten der Geschichte. In dessen Gestalt trifft er im Landhaus der Familie auf die jüngste Ausgabe des Satiremagazins Punch, konkret auf eine Karikatur von Mr. Punch mit Schirm, wie er sich den Schweiß von der Stirn wischt, während Hund Toby mit hängender Zunge hinter ihm schmachtet, und wird, wieder ganz der junge McEwan, von einem jähen Geistesblitz getroffen. Er holt den Jahrgangsband 1900 von Punch aus dem Regal der Bibliothek und findet tatsächlich die entsprechende Karikatur: Hund, Schirm und Mr. Punch, der sich das Taschentuch an die Stirn presst. Es war wahr! Ich war hingerissen, beglückt von der Macht des zugleich Imaginären und Realen. Und flüchtig überkam mich eine zuvor nie gekannte Traurigkeit, das Heimweh nach einer Welt, von der ich ausgeschlossen war. Aus der Liebkosung eines Romandetails, einer Karikatur, erfährt ein Heranwachsender, was Literatur ausmacht: das Hereinragen einer Geschichte, die sich ein anderer ausgedacht hat, in die eigene Realität und, umgekehrt, die Bedeutung realer Dinge für ausgedachte Geschichten. Diese Erfahrung ist beglückend und traurig zugleich, wie immer, wenn vorübergehendes Einswerden dazu führt, dass man sich des grundsätzlichen Getrenntseins bewusst wird.

Ein Kind. Eine Liebkosung.

Realität. Imagination. Literatur. Das ist das Thema.

Kinder sind liebkosende Wesen, zugewandt, zärtlich und forschend, sie sind es in erster Linie und von Anfang an, und der Prozess der Akkulturation kann – zumindest von Pädagogik-Skeptikern wie mir – als ein Prozess des Exterminierens der kindlichen Liebkosungsneigung gelesen werden. Erziehung als Programm der Einübung in eine liebkosungsfreie Welt – aber das klingt jetzt wie eine Mischung aus Peter Sloterdijk und Niklas Luhmann, und ich weiß nicht, ob ich das wirklich möchte.

Kinder sind liebkosende Wesen, und sie bleiben es eher, wenn man ihnen liebkosend begegnet. So zum Beispiel:

Stephen machte Frühstück und zog Kate an. Trotz der schlimmen Nacht war sie voll Tatendrang und konnte es kaum erwarten, einkaufen zu gehen (...). Beim Anziehen machte sie sogar ausnahmsweise mit. Sie stand zwischen seinen Knien, während er ihre Glieder in die Winterunterwäsche praktizierte. Ihr Körper war so kompakt, so makellos. Er hob sie hoch und drückte sein Gesicht an ihren Bauch, tat, als wolle er sie beißen. (...) Sie quiekte und zappelte, und als er sie absetzte, bettelte sie, er solle es noch einmal tun. Er knöpfte ihr Wollhemd zu, half ihr in einen dicken Pullover und zog die Träger ihrer Latzhose fest. Sie stimmte einen undefinierbaren Gesang an, eine Zusammensetzung aus Eigenkomposition, Kinder- und Weihnachtsliedern. Er setzte sie in seinen Sessel, zog ihr die Socken an und schnürte ihre Schuhe. Als er sich vor sie hinkniete, strich sie ihm übers Haar.

Stephen, die Hauptfigur aus dem Roman "Ein Kind zur Zeit", liebkost seine dreijährige Tochter. Er tut es so, wie Ian McEwan seine Figuren liebkost, wenn er sich ihnen nähert, speziell, wenn es sich um Kinder handelt: langsam, vorsichtig, genau, in einer Art und Weise, die stets die unmittelbare eigene Lust am Kind einer respektvollen Aufmerksamkeit unterordnet.

Kindliches Liebkosen hat weitaus mehr mit Aufmerksamkeit zu tun als mit Einverleiben, und Aufmerksamkeit braucht neben anderen Dingen vor allem auch eins: eine gewisse Distanz. Wenn man zu nahe dran ist, kriegt man nichts mehr mit. Das gilt sowohl im physischen wie auch in einem poetologischen Sinn.

Kinder liebkosen die Realität.

Dinge zum Beispiel. Sie alle kennen das. Kinder lieben Dinge: Steine, Blumen, giftige Beeren, Bauklötze, Buntstifte, Smartphones, Scheren, Feuerzeuge, Puppenkleider, Autoschlüssel, Joghurtbecher, Lippenstifte, Kristallgläser, Klebstofftuben, Zementsäcke, Schaufeln und die Skelette toter Maulwürfe. Kinder lieben diese Dinge, denn sie verschaffen ihnen einen Bezug zur Welt; sie lassen sich betrachten, von verschiedenen Seiten beleuchten, im Wortsinn begreifen, arrangieren, benützen und zweckentfremden. Sie lassen sich benennen, und wenn es sein muss, lassen sie sich zerstören, manchmal mit dem Vorschlaghammer wie im "Zementgarten", manchmal mit weniger schwerem Gerät. Sie lassen sich liebkosen, konkret und im poetologischen Sinn von Nabokov und McEwan.

Kinder, noch einmal, nähern sich liebkosend den Dingen an, um sie und damit die Realität zu begreifen. Ein Kind, das ein Ding begriffen hat, hat das Ding im Griff. Ein Kind, das ein Ding im Griff hat, weiß etwas. Ein Kind, das etwas weiß, hat einen Bezug zur Welt.

Um es ausnahmsweise etwas fachsprachlicher zu machen: Dinge sind ab einem bestimmten Alter in der kindlichen Psyche genauso repräsentiert, soll heißen, als innere Bilder stabil vorhanden, wie Menschen, und ich habe immer wieder ein wenig den Verdacht, dass in der Psychoanalyse die Usance, mit dem Begriff "Objektrepräsentanzen" in Wahrheit ausschließlich die inneren Abbilder von Personen zu meinen, die Möglichkeit verstellt, auch einmal tatsächlich über Objekte, also über Dinge zu reden.

Dinge sind repräsentiert, Maulwurfsskelette, bunte Glasscherben, Lastautos, Zementsäcke, Blechkisten, iPads. Das Kind kennt die Substanz dieser Dinge, ihr Aussehen, ihre Haptik, ihren Geruch, ihre Verfügbarkeit und die Prinzipien ihres Funktionierens.

Wenn nun die Menschen einmal auslassen, indem sie zum Beispiel verschwinden oder sterben, gibt es immer noch die Dinge als fixe Bojen in der Welt, die Dinge, von denen das Kind weiß, dass es sie sich in distanziert-aufmerksamem Liebkosen zu Eigen gemacht hat.

Ein uns aus der klassischen Kinderliteratur vertrautes Beispiel für diese Situation ist übrigens Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf. Die Mutter bei der Geburt verstorben, der erziehungsinkompetente Vater in die Südsee abgehauen, verschafft sich das Mädchen in erster Linie mit Hilfe der Dinge, die sie in der Villa Kunterbunt um sich versammelt, Stabilität.

Bei McEwan klingt das in seinem Roman "Der Zementgarten" so. Die Mutter ist tot:

Ihre Augen waren nicht offen und starr wie von Toten in Filmen, sie waren auch nicht ganz geschlossen. Auf dem Boden beim Bett lagen ihre Illustrierten und Bücher, auf dem Nachtisch standen ein Wecker, der noch tickte, ein Glas Wasser und eine Orange. Sue und ich sahen vom Bettende aus zu, wie Julie das Betttuch ergriff und über Mutters Kopf zu ziehen versuchte. (...) das Laken rutschte heraus. (...) Mutters Füße wurden sichtbar (...), bläulichweiß, mit einem Zwischenraum zwischen jeder Zehe.

Das Laken, das Wasserglas, die Bücher, die Illustrierten, die Orange, der Wecker, der nachläuft, beinahe wie die Haare von Toten, die ja angeblich auch noch eine Weile wachsen – Dinge, die innerpsychisch repräsentiert sind, Dinge, an denen die Kinder in Konfrontation mit der soeben verstorbenen Mutter ihre neue, provisorische Realität verankern. Am schönsten finde ich allerdings den Zwischenraum zwischen den Zehen. Ob ein Zehenzwischenraum ein Ding ist, darüber ließe sich diskutieren. Dass er keine Zehe mehr ist, also nichts Belebtes, unmittelbar zum Menschen Gehöriges, das ist auch einem Kind klar; ebenso allerdings, dass wir ihn mit uns tragen wie die Zehe selbst, schicksalhaft und unvermeidlich. Irgendwie stirbt der Zwischenraum also doch mit, wenn die Zehe neben ihm stirbt, obwohl er im eigentlichen Sinn nicht sterblich ist. Den Zehenzwischenraum zur Metapher für das Gestorbensein der Mutter zu machen war noch nie da, denke ich, und wenn man ehrlich ist, ist es poetologisch nicht ganz unelegant.

Kann ein Zehenzwischenraum sterben?

Ein kleiner Exkurs.

Zwischen Realität und Imagination erstrecken sich zwei Dinge. Erstens die Erzählung, also Literatur; um die geht es hier die ganze Zeit. Zweitens, vor allem bei Kindern (und daher darf es darum jetzt auch kurz gehen): die Frage.

Kinder stellen Fragen, das ist uns allen vertraut, und sie tun das in erster Linie, um eine Verbindung zwischen ihren Vorstellungen und der Realität herzustellen. Kindliche Fragen haben sowohl ein epistemisches als auch ein narratives Ziel. Mit anderen Worten: Kindliche Frage wollen als Antwort immer ein Stück Erkenntnis und eine Geschichte.

Sie kennen diese Fragen:

Wie kommt das Wasser in die Leitung?

Wie kommen die Sterne an den Himmel?

Kühlt die Sonne in der Nacht aus?

Wo waren die Karies-Bakterien, bevor sie in deinen Mund gekommen sind?

Gibt es Menschen, die keine Knochen haben?

Wohin fließt das Wasser, wenn man den Stöpsel aus der Wanne zieht?

Wenn Oma tot ausschaut, stirbt sie dann gleich wirklich?

Wie oft haben Papa und du Sex?

Aha, lasst ihr euch scheiden?

Heißt das, die Fische im Meer trinken das Pipi, das ich in die Badewanne gemacht habe?

Kann man sich selbst erwürgen?

Schreien Ameisen lautlos, wenn man sie zerquetscht?

Was ist ein Blowjob genau?

Was ist die allergrößte Zahl?

Wie viele Atome hat das Universum?

Was zählt man mit einem Googolplex, wenn es im ganzen Universum nicht einmal so viele Atome gibt?

Kinder wie Peter Glück im "Tagträumer" stellen diese Fragen, und nachdem sie die eine oder andere Antwort erhalten haben, wissen sie zum Beispiel, dass ihre Eltern und Lehrer von staatenbildenden Insekten und wirklich großen Zahlen keine Ahnung haben, aber der fixen Ansicht sind, man solle Ameisen am Leben lassen, egal ob sie schreien oder nicht. Sie wissen, dass ein Leben ohne iPad vermutlich eine Zeitlang möglich ist, und sie wissen, dass Sex etwas ist, von dem der Verdacht besteht, dass es in der Umsetzung noch größere Probleme macht als beim Reden darüber. Implizit wissen sie nach der ganzen Fragerei jedenfalls immer, dass ihre Eltern wirklich schon ziemlich alt sind und die Lehrer in Wahrheit keine Ahnung haben.

Exkurs Ende.

Ein Kind. Eine Liebkosung. Realität. Imagination.

Kinder liebkosen die Realität, indem sie Dinge lieben. Da waren wir vorhin.

Kinder liebkosen ihre Imaginationen (sofern man sie lässt), indem sie zwischen sich und dem Rest der Welt einen Schirm errichten und sich Sachen vorstellen. Dass die Katze plötzlich Junge kriegt, zum Beispiel, obwohl sie erst letzte Woche zum Sterilisieren beim Tierarzt war. Dass die Frau Lehrerin den Mund öffnet, eine Biene verschluckt und leider qualvoll ersticken muss. Dass jemand kommt und einen entdeckt, als Schauspieler, als Supersportler, egal als was. Dass sich die Erde auftut, alle stürzen in den Krater, nur man selbst überlebt und rettet das hübscheste Mädchen der Straße. Dass einem die Eisenbahn gehört. Dass einem eine Fluglinie gehört. Dass einem die Schule gehört, nachdem die Lehrerin erstickt ist.

Oder (Ian McEwan, "Der Tagträumer"): dass man eine Katze einfach aufzippen, in sie hineinschlüpfen und die Identität tauschen kann. Oder (ebendort): dass man den ärgsten Schläger der Klasse unter Anwendung eines raffinierten Psychotricks in die Knie zwingt.

Kinder liebkosen ihre Imagination, indem sie sich zum Beispiel vorstellen, wie man unter Verwendung eines Kleiderbügels und eines Drahtseils, das zwischen den Bäumen aufgespannt ist, schnell bergab gelangen kann. Wenn sie mit dem Vorstellen fertig sind, stehen sie aus dem Fauteuil auf, egal ob der Vater dahinter in den Abgrund stürzt oder nicht. Da waren Sie vorhin, bei Peter Glücks Vorstellungsliebkosung und beim Absturz seines Vaters. Kinder in einem bestimmten Alter liebkosen ihre Vorstellungen lieber als ihre Väter und Mütter. Genau genommen liebkosen Kinder fast jeden Alters ihre Vorstellungen lieber als ihre Eltern, aber das macht man sich als Vater oder Mutter Gott sei Dank nicht allzu oft bewusst. Manchen Schriftstellerkolleginnen und -kollegen scheint das allerdings sehr wohl klar zu sein. In einer aus kinderpsychiatrischer Sicht nicht ganz unfragwürdigen Weise fraternisieren sie mit der Imaginationslust ihrer jungen Leser und räumen, präkriminell, wie Schriftsteller gelegentlich sind, die Eltern einfach aus dem Weg. Sie lassen sie entweder schon gestorben sein oder, sofern das noch nicht passiert ist, auf die eine oder andere Weise ums Leben kommen.

Durchforste ich zum Beispiel die Lieblingsbücher meiner eigenen Kindheit, finde ich überwiegend elternfreie Geschichten: Die Pixi-Bücher über Petzi, den Bären, und seine Freunde, mit denen ich lesen lernte – keine Eltern. Otfried Preußlers "Der Räuber Hotzenplotz" – eine fragwürdige, wiederholt in Ohnmacht fallende Großmutter, aber weit und breit keine Eltern. Preußlers "Das kleine Gespenst" – Vollwaise. Oder Astrid Lindgren: Mio, der eigentlich Bo Vilhelm Olsen heißt, aus "Mio, mein Mio" – Pflegekind. Rasmus aus "Rasmus und der Landstreicher" – Waisenknabe. Pippi Langstrumpf – Mutter tot, Vater so gut wie. Mark Twains Tom Sawyer – Waisenknabe, lebt mit seinem nervigen Halbbruder Sid bei Tante Polly. Huckleberry Finn schließlich, Lichtgestalt und literarischer Lebensbegleiter – Mutter tot und der Vater ein gewalttätiges versoffenes Ekel, dessen Hinscheiden man zirka auf Seite dreißig herbeizusehnen beginnt.

Geschichten ohne Eltern. Wenn das Gelingen von Kindheit bedeutet, die Eltern hinter sich zu lassen (und manche altmodischen Pädagogen glauben das noch), hat die Sache auch ihre Logik. Fasst man Lesen als die libidinöse Besetzung, also das Liebkosen des eigenen Imaginationsvermögens auf, helfen jene Bücher beim Gelingen von Kindheit, die die Eltern von vornherein abschaffen oder ihnen bestenfalls eine Statistenrolle zuschreiben. Aber vielleicht lesen solche Bücher auch nur Menschen gern, die es später notwendig haben, Kinderpsychiater zu werden.

Ian McEwan ist noch eindeutiger. Das bloße Fehlen der Eltern oder ihr Ableben – auf die eine oder andere Weise – scheint ihm nicht zu genügen. In "Der Tagträumer" führt der zehnjährige Peter Glück vor, was eigentlich Sache ist. Er verwendet dazu eine Entfernungscreme: Der weiße Rücken seiner Mutter glänze im Sonnenschein. Es war soweit. (...) Peter fing an, die Creme gleichmäßig zu verteilen, und seine Mutter begann sich auf der Stelle zu verflüchtigen. Es gab einen unangenehmen Augenblick, als ihr Kopf und ihre Beine noch auf dem Gras ruhten, während es dazwischen nichts mehr gab. Rasch rieb er ihr mit dem Finger Kopf und Knöchel ein. Sie war verschwunden.

Der "Zementgarten" beginnt überhaupt in maximaler Deutlichkeit: Ich habe meinen Vater nicht umgebracht, aber manchmal kam es mir vor, als hätte ich nachgeholfen.

Da kann einem sofort noch einmal Pippi Langstrumpf einfallen, ebenfalls der Anfang: Ja, natürlich hatte Pippi auch eine Mutter gehabt, aber das war so lange her, dass sie sich gar nicht mehr erinnern konnte. Die Mutter war gestorben, als Pippi noch ein ganz kleines Ding war, das in der Wiege lag und so furchtbar schrie, dass es niemand in ihrer Nähe aushalten konnte.

Typisch Kinderpsychiater, McEwans "Zementgarten" mit Astrid Lindgrens "Pippi Langstrumpf" zu assoziieren, werden einige von Ihnen sagen. Trotzdem: Die Parallele zwischen der Idee des pubertierenden Jack und jener der gerade noch nicht pubertierenden Pippi, am Tod von Vater beziehungsweise Mutter mitgewirkt zu haben, erscheint einigermaßen zwingend. Das Phantasma der Beseitigung der Eltern als eine Zone der liebkosenden Berührung zwischen dem kindlichen Entwicklungsbedürfnis nach Autonomie und Erzählung. Das Phantasma der Beseitigung der Eltern als ein Punkt, an dem die Literatur die Entwicklung von Kindern eindeutig besser versteht als die wissenschaftliche Pädagogik. McEwan liebkost dieses Phantasma ein ganzes Buch lang, und er tut es auf seine höchstpersönliche Weise: langsam, vorsichtig und aufmerksam. Am Ende stinkt es ein wenig, aber das gehört dazu. Wenn es zu stinken beginnt, soll man aufhören. (Paulus Hochgatterer, Album, DER STANDARD, 7./8.2.2015)